junge Welt, 26.07.2000 Abschieben »mit Herz und Seele« Mehr als 800 Protestunterschriften an Bürgermeister von Frankfurt (Oder) übergeben »Hunderttausende fahren jedes Jahr in die Türkei in den Urlaub«, weiß Frankfurts Bürgermeister Detlef Heino Ewert. »Außerdem sind in der jüngsten Vergangenheit keine Folterfälle mehr passiert, wie das Auswärtige Amt mitteilt«, betonte Ewert am Dienstag in einem Gespräch mit jungen Frankfurtern, die sich gegen die drohende Abschiebung einer Kurdin einsetzen (siehe jW vom Dienstag). Ewerts Argumente garantieren ihm ein reines Gewissen, wenn die 16jährige Kurdin Gülcan Turgan, deren Schwester wegen angeblicher Unterstützung der PKK in einer türkischen Todeszelle sitzt und deren noch in Frankfurt (Oder) lebender Bruder in seiner Heimat gesucht wird, am Freitag in die Türkei ausgeflogen werden sollte. »Persönlich tut mir das leid. Die Verwaltung wird oft als herzlos beschrieben, aber das ist sie nicht. Das Gesetz läßt uns keinen Spielraum, wenn das Verwaltungsgericht entschieden hat.« Einigen der zumeist Jugendlichen, die Ewert am Dienstagmorgen mehr als 550 bei einer Mahnwache und weitere 300 seit Januar gesammelte Protest-Unterschriften übergeben hatten, standen nach dem Gespräch mit dem Stadtoberhaupt die Tränen in den Augen. Sie erinnerten sich daran, daß vor drei Jahren ein nierenkranker Roma aus Frankfurt(Oder) abgeschoben wurde. »Der Mann ist inzwischen tot. In Deutschland könnte er noch leben«, ist Aslyberaterin Sabine Grauel überzeugt. Die Mitarbeiterin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ist für Ewert ein rotes Tuch, seit vor Jahren eine Broschüre über staatlichen Rassismus in Brandenburg erschien. Darin war Ewerts Name nach einem Bewertungssystem mit fünf Bomben-Symbolen versehen. Für den Sozialdemokraten ein Aufruf zur Gewalt. Da rutscht ihm schon einmal ein Vergleich der Flüchtlingshelfer mit der baskischen Untergrundorganisation ETA heraus, wenn er im Gespräch mit einem Flüchtlingsschicksal konfrontiert wird, das ähnlich enden könnte wie das des gestorbenen Roma-Mannes. Doch im nächsten Moment ist er wieder ganz der Mann, der Konsequenz und Entschlossenheit ausstrahlt, der in der Stadt noch immer punkten konnte, wenn es um Ordnung, Sicherheit und Katastrophenschutz ging. »Ich bitte Sie mitzuhelfen, daß wir in Deutschland ein Einwanderungsgesetz bekommen. Das Asylgesetz kann nicht zu solch einer Regelung umfunktioniert werden«, erklärt Ewert. »Wir haben unseren Spielraum ausgenutzt, damit Gülcan Turgan bis zum Abschluß des 9. Schuljahres und dem Erreichen der Volljährigkeit (gemeint ist die sogenannte Asylmündigkeit mit 16 Jahren, d.A.) bleiben konnte.« Nach einem Negativbescheid des Verwaltungsgerichts sei die Ausländerbehörde gehalten, für die sofortige Abschiebung des Mädchens zu sorgen. Trotzdem lädt Ewert Sabine Grauel ein, die Angaben des Auswärtigen Amtes, auf die sich beide in unterschiedlicher Diktion beziehen, am Donnerstag bei einem Gespräch noch einmal zu vergleichen. Hoffnung will er den Bittenden trotzdem nicht machen. Auch nicht, als er auf den Brief des Landespetitionsausschusses hingewiesen wird, der ihn vor drei Jahren - nach der Roma-Abschiebung - aufforderte, künftig wenigstens den Abschluß anhängiger Petitionsverfahren abzuwarten. Immerhin hat sich auch Gülcan Turgan in einem Brief an Potsdam gewandt: »Ich wäre als alleinstehendes Mädchen bei einer Abschiebung schutzlos den türkischen Sicherheitskräften auf dem Flughafen in Istanbul ausgeliefert. Ich würde als Abgeschobene mindestens 14 Tage im Flughafen festgehalten und unter Folter verhört werden. Diese Praxis der türkischen Sicherheitskräfte ist mir persönlich, unserer Familie, unseren Freunden und den deutschen Behörden und Gerichten und dem Auswärtigen Amt bekannt. Als junges Mädchen muß ich in der Türkei sexuelle Folter durch Vergewaltigung befürchten! Diese Foltermethode wird in der Türkei angewendet. Dies bestätigt auch das Auswärtige Amt.« »Eine aufschiebende Wirkung hat das nicht«, konstatiert Ewert. »Wir haben alle Möglichkeiten mit Herz und Seele ausgeschöpft. Für uns sind das Verwaltungsgericht und die Vormundschaft der in der Türkei lebenden Eltern maßgebend.« Daß es Gülcan Turgans Vater selbst war, der die Flucht seiner Tochter aus den Notstandsprovinzen in der östlichen Türkei angesichts wachsender Repressalien gegen die Familie organisierte, sei umstritten. »Ich fühle mich nicht in der Lage, juristische Entscheidungen aufzuheben. Aber für mich ist es auch wichtig, daß wir nicht jedes Mal in der Konfrontation enden.« Wenn Gülcan Turgan in ihrer Heimat verhaftet, gefoltert und vergewaltigt wird: Ewert wird es leid tun. Vielleicht wird er sagen: Schrecklich, daß sich das Auswärtige Amt so irren konnte. Martin Zippendorf
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