Bremer Nachrichten, 28.7.2000 Steht Nordzypern vor der Implosion? Sicherheitsrat der Türkei eingeschaltet Von unserer Korrespondentin Susanne Güsten Istanbul. Schauplatz war Nordzypern in dieser Woche, doch die Szene gemahnte an Osteuropa im Herbst 1989: Vorsichtig lugten zunächst ein paar Gesichter in den Plenarsaal des nordzyprischen Parlaments in Nikosia; zögernd schob ein dicker Mann die Tür einen Spalt weit auf, wurde von der nachdrängenden Menge in den Saal geschubst - und dann gab es kein Halten mehr: Triumphierend stürmten die Demonstranten ins Parlament. "Wir sind das Volk", skandierte die Menge und forderte den Rücktritt der Regierung. Die Reaktionen der Behörden auf die Parlamentsbesetzung vom Montag und ähnliche Unruhen dieser Tage erinnern ebenfalls an den Zusammenbruch des Ostblocks: Dutzende Demonstranten wurden festgenommen und verhört, darunter führende Oppositionspolitiker und prominente Dissidenten. Der Parlamentspräsident verurteilte die Aktionen als "Provokation", die vermutlich von den Zyperngriechen angezettelt worden sei, und Präsident Rauf Denktasch sprach von "gewissn Kreisen, die einen Keil zwischen Nordzypern und die Türkei treiben wollen". Dabei ist der Geist schon längst aus der Flasche: "Wir wollen uns selbst regieren", forderte ein Redner auf einer Kundgebung in Nikosia letzte Woche. Rund 10000 Menschen waren gekommen - das sind ganze zehn Prozent der einheimischen Bevölkerung, denn von den 200000 Einwohnern der international nicht anerkannten Türkischen Republik Nordzypern sind inzwischen gut die Hälfte türkische Siedler und Soldaten. Mit einem Sitzstreik vor dem Ministerpräsidentenamt fordern mehr als 40 nordzyprische Parteien und Vereine nun die Freilassung der Festgenommenen. Die Polizeiaktion gegen die Demonstranten hat diese besonders erbost, denn die Polizeihoheit über den Mini-Staat ist zum Symbol für die Fremdbestimmung geworden. Die Polizei auf Nordzypern untersteht nicht der Regierung in Nikosia, sondern dem Oberkommandierenden der Streitkräfte - einem von Ankara entsandten General. Eine Debatte über diesen Zustand hatte der Offizier kürzlich beenden wollen, indem er die federführenden Journalisten des Verrats bezichtigte; wenig später wurden sie wegen Spionagevorwürfen festgenommen. De facto ist der 1974 durch die türkische Intervention abgetrennte Inselteil längst eine türkische Kolonie. 30000 türkische Soldaten stehen auf Nordzypern, Handel, Post und Telekommunikation werden über die Türkei abgewickelt; offizielle Währung ist die Türkische Lira. Das ist den Nordzyprern nicht immer unrecht gewesen: Bis vor wenigen Jahren war die Erinnerung an die ethnischen Unruhen der 60er Jahre auf der Mittelmeerinsel noch zu lebendig, als dass die meisten Zyperntürken auf die Schutzmacht hätten verzichten wollen. Inzwischen lebt aber ein Großteil der nordzyprischen Jugend in London. Internationale Embargos und heimische Misswirtschaft haben die verbliebenen Zyperntürken in eine verzweifelte wirtschaftliche Lage gebracht - während sich der zyperngriechische Südteil der Insel auf die EU-Mitgliedschaft vorbereitet. Anlass für den Sturm auf das Parlament war denn auch eine materielle Forderung: Die Demonstranten verlangten die Auszahlung von Entschädigungen für den Zusammenbruch mehrerer zwielichtiger Banken. Doch unter die Rufe nach weiteren Zuwendungen aus Ankara mischten sich bald auch Forderungen, selbst den Weg in die EU einzuschlagen - was derzeit nur mit den Zyperngriechen und ohne die Türkei möglich wäre. Zwar hat die Türkei, deren Nationaler Sicherheitsrat sich am Mittwoch mit den Ereignissen auf der Insel befasste, die Lage derzeit noch im Griff. Doch auch in Ankara erinnert man sich langsam daran, dass es die Kombination von materieller Misere und politischer Bevormundung war, die Osteuropa zur Implosion brachte.
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