Bremer Nachrichten, 29.7.2000 Auf nackten Füßen durch Dornenfelder gejagt Türkische Justiz geht sehr brutal mit jugendlichen Straftätern um Von unserer Korrespondentin Susanne Güsten Istanbul. Yildiray Kirda und Ali Kazan starben einen einsamen Tod. Die beiden 16- und 18-jährigen jugendliche Straftäter waren für eine ärztliche Untersuchung in die medizinische Abteilung des Istanbuler Jugendgefängnisses Bakirköy gebracht worden. Doch nach dem allabendlichen Hofgang der Häftlinge wurden Yildiray und Ali in ihren Betten gefunden: erwürgt mit dem Bettlaken. Niemand weiß, wer die beiden Jungen umgebracht hat, und es hat auch nicht den Anschein, als ob der Fall viele Menschen in der Türkei interessiert. Eine Untersuchung der Morde sei eingeleitet worden, teilten die Behörden lapidar mit. Die Schicksale von Yildiray und Ali mögen extreme Einzelfälle sein, doch der Tod der beiden Jungen wirft ein Schlaglicht darauf, wie brutal - und mitunter lebensgefährlich - der Strafvollzug für Jugendliche in der Türkei ist. Fast 10000 Jungen und Mädchen im Alter zwischen elf und 18 Jahren sitzen in türkischen Gefängnissen ein und erleiden dort oft Furchtbares. Der Menschenrechtsausschuss des türkischen Parlaments fand bei einer Untersuchung der Lage in Gefängnissen und Polizeiwachen des Landes heraus, dass Wärter und Polizisten die Kinder und Jugendlichen in der Haft mit derselben Rücksichtslosigkeit behandeln wie erwachsene Gefangene. In zwei Gesprächsserien mit den Abgeordneten 1998 und in diesem Jahr berichteten die Jugendlichen, wie es ihnen hinter Gittern erging: Sie wurden auf nackten Füßen durch Dornenfelder gejagt, mit Stromstößen gefoltert; sie vegetierten in den von Ratten bevölkerten Zellenträkten bei Wasser und Brot, und wenn einer von ihnen Zahnschmerzen hatte, wurde er nicht zum Arzt geschickt - der kranke Zahn wurde ihm herausgeschlagen. Dass so viele Jugendliche in der Türkei in den Gefängnissen sitzen, liegt nicht zuletzt daran, dass die Gesetze drakonische Strafen für Eigentumsdelikte vorsehen; knapp 40 Prozent aller jugendlichen Häftlinge sitzen wegen Diebstahls ein. Vor einigen Jahren sorgte der Fall einiger Jungen für Wirbel, die zu neun Jahren Haft verurteilt wurden, weil sie einige Kilogramm der Süßspeise Baklava gemopst hatten. Das Urteil wurde sogar höchstricherlich bestätigt. Zu den harten Strafen kommt der Mangel an Jugendrichtern und -gerichten: In der ganzen Türkei gibt es nur sechs Gerichte für Kinder; ab einem Alter von 15 Jahren können Jugendliche vor Gericht wie Erwachsene behandelt werden. Besonders unnachgiebig agiert die Justiz, wenn es um politische Vorwürfe gegen Jugendliche geht. So wird vor dem für schwere politische Straftaten zuständigen Staatssicherheitsgericht in der Provinzhauptstadt Diyarbakir im Kurdengebiet regelmäßig die Todesstrafe gegen Jugendliche gefordert, die als Unterstützer oder Mitglieder der kurdischen Rebellenorganisation PKK vor den Richter kommen; allein im vergangenen Jahr beantragte die Staatsanwaltschaft für 68 minderjährige Angeklagte die Todesstrafe. Die Reaktionen der Justizvertreter auf die Beschwerden von Häftlingen und die Nachforschungen des Parlaments in Ankara zeugen nicht von großem Problembewusstsein. Die Justizbehörden bemühten sich, Menschenrechtsprobleme für Jugendliche hinter Gittern "auf ein niedriges Niveau" zu senken, erklärte ein leitender Staatsanwalt kürzlich. "Wenn Unzulänglichkeiten beobachtet werden, sind wir jederzeit für die nötigen Untersuchungen offen." In den Aussagen junger Häftlinge spiegelt sich aber ein ganz anderes Bild. Ein Jugendlicher berichtete den Parlamentsabgeordneten von einem Freund, der von Polizisten mehrere Tage lang verprügelt wurde. Als er anschließend zu einem Arzt gebracht wurde, zeigte sich dieser bestürzt über die Verletzungen. Die Polizisten sagten jedoch: "Der gehört uns; er ist kerngesund." Und das stand auch später im Attest.
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