Frankfurter Rundschau 31.7.2000 "So wenig Achtung vor dem Leben" Ansichten aus dem schönen Ahlbeck, wo ein Obdachloser im Schatten der Kirche zu Tode gequält wurde Von Karl-Heinz Baum (Ahlbeck) und Ulrich Gehring (Hanau) "Ein Traum in der Ostsee" und "Herzlich willkommen auf der Sonneninsel", begrüßt Deutschlands östliche Insel Usedom Gäste. Für den 51-jährigen Norbert Plath wurde die Fahrt ins frühere "Kaiserbad" Ahlbeck an der Grenze zu Polen eine Reise in den Tod. Um 9.48 Uhr am vorvergangenen Sonntag stieg er an der Station "Seebad Ahlbeck" aus der Usedomer Bäderbahn. Am Montagmorgen fand ihn eine Frau tot und übel zugerichtet auf den rückwärtigen Stufen der Kirche. Plath kannte Ahlbeck. Hier war er geboren worden, war er aufgewachsen, hier hatte er bis zum Mauerfall gelebt. Danach ging er weg, wollte das Glück westwärts suchen. Er schaffte es nicht. Bald war er "Berber", wie sich Wohnungslose nennen, kam vor drei Monaten im Franziskus-Haus der Caritas Hanau unter. Der lange, schlanke Mann mit schulterlangem Haar und dem auf die Brust reichenden Bart war bei seinen Schicksalsgefährten beliebt, galt als verträglich. In die Heimat ist er im Sommer immer mal wieder gefahren. Diesmal lud er Kumpel ein mitzukommen. In Hanau fragen sich Angesprochene, was geschehen wäre, wenn sie der Einladung gefolgt wären. "Hätte ich das Schlimmste verhüten können? Oder wäre ich jetzt auch tot?" Nun haben die, die gar nichts haben, 57 Mark für einen Kranz gesammelt. Ahlbecker haben Plath am Sonntag über die Promenade und die hundert Jahre alte Seebrücke gehen sehen. Dort traf er vermutlich seine späteren Peiniger: junge Leute zwischen 15 und 24 Jahren aus der rechtsradikalen Szene des Orts, viele kahl geschoren. 20 bis 30 gehörten im Ort zum Kern Jugendlicher mit rechtsradikalem Gedankengut. Drei von ihnen, 15, 16 und 19 Jahre, sind unter dem Vorwurf des Mordes verhaftet worden, alle aus "ganz normalen Familien", zwei Schüler, ein Auszubildender. Nach dem 24-jährigen Gunnar D. aus Ahlbecks Obdachlosenheim wird gefahndet. Zum Nächtigen fand Plath den ruhigen Fleck hinter der Kirche. In der Dunkelheit, ermittelte die Polizei, haben ihn zwei Verdächtige aufgesucht, haben erst mit ihm getrunken, dann "auf ihn eingeschlagen und ihn unglaublich brutal gequält". Sie hätten ihn in die Genitalien getreten, einer sei ihm mehrfach auf den Kopf gesprungen. Danach seien sie zu Gesinnungsgenossen gegangen, seien mit ihnen, darunter auch Mädchen, erneut zur Kirche gekommen, "um den Mann ganz fertig zu machen". Jetzt hätten vier erneut brutal zugeschlagen, im Beisein der Mädchen. "Bei den Vernehmungen standen uns die Haare zu Berge", heißt es bei der Polizei. Nicht einmal da hätten die Jugendlichen die Tat, die ihnen zur Last gelegt wird, bereut. Als Motiv hörten die Beamten: Hass auf Obdachlose. Einer habe gesagt: "Asoziale und Landstreicher gehören nicht ins schöne Ahlbeck"; ein anderer habe dem um Schonung flehenden Mann zugerufen: "Die Kirche wird dir auch nicht helfen." Ein Dritter soll ausgesagt haben: "Mit Springerstiefeln wäre es schneller gegangen." "So wenig Achtung vor dem Leben" hat selbst die Polizei überrascht. Das politische Ahlbeck steht unter Schock. Bürgermeister Hans-Joachim Mohr (SPD) begann Freitagabend die Rede zur Eröffnung der 300-Jahr-Feier des Seebads mit den Worten: "Noch nie ist es mir so schwer gefallen, hier zu sprechen." Er lud Einheimische und Urlauber ein, zum Gedenken an den zu Tode Getrampelten zur Kirche zu kommen.Bald darauf versammelten sich da zweihundert Menschen, legten Blumen nieder, zündeten Kerzen an. Mohr sagte, die Menschen seien erschüttert und stünden "ohnmächtig vor soviel Gewalt". Er will die Täter "mit allen Mitteln des Rechtsstaats abgestraft" sehen. Zufällig auf der Straße angesprochene Bürger Ahlbecks äußern Bedauern, keiner nimmt die jungen Leute in Schutz. Man muss schon genau hinhören, um unterschwellig auch Zustimmung zur Gewalt gegen Schwache zu erkennen, etwa wenn ein 60-Jähriger sagt: "Das war eine Nummer zu groß." Wollte er es eine Nummer kleiner? Nein, das habe er nicht gemeint. Ein anderer sagt: "Obdachlos sein ist sozial nicht notwendig" und meint, der Staat müsse mehr für Schwache tun. In Ahlbeck ist mit der Tat ein Projekt zusammengebrochen. Vor zweieinhalb Jahren baten sechs ortsbekannte Rechtsextreme den Bürgermeister um einen Raum. Damals hat der Gemeinderat lange beraten. Am Ende wollten alle integrieren und nicht ausgrenzen. Unter Auflagen wurde der gewünschte Raum zur Verfügung gestellt: die Gruppe sei zu betreuen; verfassungsfeindliche Zeichen wie Hakenkreuze seien ebenso verboten wie Gewalt. Einen auf den Umgang mit Rechtsextremen geschulten Sozialarbeiter habe er nicht gefunden, sagt der Bürgermeister. Schließlich übernahm ein früherer Seemann, auch Technischer Offizier auf See, dann arbeitslos, die Aufgabe. Er arbeitete mit den Jugendlichen zusammen, zeigte ihnen als Beispiel für eine Diktatur die Gedenkstätte des Hungerlagers Fünfeichen bei Neubrandenburg, in das nach dem Zweiten Weltkrieg Zehntausende Deutsche eingeliefert wurden. Er wollte mit der Gruppe auch zur Stätte der Judenvernichtung in Auschwitz fahren. Doch daraus wurde nichts. Der Bürgermeister hat den Raum erst einmal geschlossen. Aus dieser Gruppe kommt der flüchtige D., den die inhaftierten Jugendlichen so schwer belasten sollen. Er ist wegen Körperverletzung vorbestraft und trägt, so heißt es in Ahlbeck, rechtsradikale Gesinnung sichtbar zur Schau: "White Power" habe er sich hinters Ohr auf den Kahlkopf und "H-A-S-S" auf die rechten Finger tätowieren lassen. Für den Betreuer ist D. ein Außenseiter in der Gruppe. Die anderen hätten sich wie die Bevölkerung von der Tat distanziert. Bei der Gedenkveranstaltung vor der Kirche standen einige von ihnen weiter unten auf der Straße. Man hat ihnen gesagt, hier seien sie nicht erwünscht. Ahlbeck fragt sich: Haben wir die Natter an der eigenen Brust genährt? War der nicht auf rechtsradikales Gedankengut geschulte Betreuer überfordert? Hat sich die Gemeinde zu viel zugetraut? "Wir wussten immer ums Risiko; doch wir wollten das Problem selbst lösen", sagt der Bürgermeister. Pfarrer Gerd Panknin ist überzeugt, ohne die betreute Gruppe wäre die rechtsradikale Gewalt im Ort früher eskaliert. Er macht für den Tod alle aus der Gruppe verantwortlich, und jene "Führer" weiter oben, die Parolen ausgeben. Sind jene die Luftverpester, die die Brüche in der Sozialisation manch junger Leute auslösen? Der Mord von Ahlbeck ist die dritte tödlich verlaufene Gewalttat Rechtsradikaler an Obdachlosen in Mecklenburg-Vorpommern innerhalb sechs Wochen. Als habe einer ein Kommando gegeben. Oder räumt die Mitte der Gesellschaft zu schnell das Feld vor Rechtsextremen? Auf einem Transformatorenhaus neben dem Fußweg zwischen Kirche und Rathaus prangt der Slogan "Pommern bleibt rein". Anwohner, darauf angesprochen, sind erstaunt: "Das steht doch schon lange da." Wissen Sie nicht, dass damit nach Nazi-Vorbild auf "obdachlosenrein, ausländerrein, judenrein" angespielt wird? Der "Ostsee-Traum" Usedom könnte zum Albtraum werden. Ein Urlauber warnte nach der rechtsradikalen Tat per Leserbrief "vor Folgeschäden für den blühenden Tourismus".
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