taz 2.8.2000 Wenn Kinder alleine auswandern von DOMINIC JOHNSON Ein Jahr ist es heute her, dass ein grausiger Fund Belgien in Aufregung versetzte. Im Radgestell eines Sabena-Flugzeuges, das aus Westafrika nach Brüssel gekommen war, lagen die Leichen von Yaguine Koita (15) und Fodé Tounkara (16). Die zwei Oberschüler aus Guinea, deren Schule direkt neben der Startbahn des Flughafens der Hauptstadt Conakry liegt, hatten sich in das Flugzeug hineingeschmuggelt, um nach Europa auszureisen. Sie erfroren unterwegs. Es dauerte mehrere Tage, bevor das Sabena-Personal die erstarrten Körper fand. Die beiden Kinder trugen einen handgeschriebenen Brief "an die Herren und Verantwortlichen Europas" bei sich, in dem sie um Hilfe für Afrikas Kinder baten (siehe Dokumentation). Damals waren die Emotionen groß, allerlei belgische Politiker äußerten sich betroffen. Ein Jahr später ist illegale Einwanderung nach Europa zu einem Hauptthema der EU geworden. Von koordiniertem Vorgehen gegen Schleuser und Schlepper ist viel die Rede - von einer besseren Entwicklungspolitik, um die Bedingungen beseitigen zu helfen, die Migranten zu lebensgefährlichen Ausreiseversuchen zwingen, weniger. Zum Jahrestag des Kinderdramas von Brüssel soll sich das ändern. Der Dachverband belgischer Dritte-Welt-Gruppen, CNCD (Nationales Zentrum der Entwicklungszusammenarbeit), der 90 Initiativen und NGOs vereint, gibt am Freitag den Brief der beiden Guineer als Petition heraus und sammelt Unterschriften in ganz Europa. Wenn neben den Namen von Yaguine Koita und Fodé Tounkara noch 50.000 weitere Namen stehen, soll er tatsächlich seinen Adressaten vorgelegt werden, an erster Stelle EU-Kommissionspräsident Romano Prodi. "Wir erwarten eine erhebliche Steigerung der Entwicklungshilfe", erklärt Jean-Francois Pellet vom CNCD: Das jahrzehntealte Ziel, wonach die Industrienationen 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe ausgeben sollten, müsse jetzt endlich erreicht werden. Außerdem solle bei den laufenden Umstrukturierungen der Entwicklungszusammenarbeit, die in Belgien wie auch in Deutschland und anderen EU-Staaten im Gang ist, "qualifiziertes Personal" eingestellt werden. Ein erster Probelauf der Unterschriftensammlung in Belgien brachte bereits 2.000 Namen, die am 2. Mai der Präsidentin des Europaparlaments vorgelegt wurden, Nicole Fontaine. Nach Ansicht Pellets war der Tod der beiden Kinder "eine Geste der Verzweiflung, die uns gleichzeitig auf das Problem der illegalen Migration und das Problem der Unterentwicklung verweist". Der Extremfall, dass Kinder aus Krisengebieten sich allein nach Europa schmuggeln, ist dabei gar nicht so selten. Nach Angaben des UNHCR stellten 1999 in 15 europäischen Ländern, aus denen entsprechende Daten vorliegen, 13.607 unbegleitete Minderjährige Asylanträge - 15 Prozent mehr als im Vorjahr. Insgesamt leben nach Schätzung des UNHCR und des Hilfswerks "Save The Children" in Europa 100.000 allein stehende Flüchtlingskinder, davon 5.000 bis 10.000 in Deutschland. Unter den Afrikanern sind die Hauptherkunftsländer Somalia und Sierra Leone. Das europäische Asylrecht ist ungeeignet für den Umgang mit Kindern ohne Begleitung. In Deutschland beispielsweise, kritisiert das UNHCR, dürfen Kinder unter 16 Jahren keinen eigenständigen Asylantrag stellen, aber man darf sie abweisen und abschieben. Viele andere Länder erlauben solchen Kindern immerhin den Aufenthalt, ohne ihren endgültigen Status zu klären. Daraus ergeben sich unterschiedliche Konstellationen. So reisen beispielsweise besonders viele allein stehende Kinder aus Somalia nach Großbritannien und leben dort als Flüchtlinge. Aus Frankreich wird von der Ausbeutung von Kindern aus Sierra Leone in Billigjobs berichtet; in Italien gibt es viele minderjährige Prostituierte aus Nigeria. Nach BBC-Recherchen reisen viele dieser Kinder unter Bedingungen, die denen des Sklavenhandels ähneln. Viele Mädchen kämen aus der Stadt Benin City in Nigeria nach London. Dort würden sie Asyl beantragen und dann von Zuhältern nach Italien verschleppt, wo sie "Schulden" von bis zu 50.000 Dollar abarbeiten müssten. Inzwischen ist Italien dabei, nigerianische Prostituierte massenweise abzuschieben. Das verbessert die Lage der Kindermigranten auch nicht. In Belgien starteten die Behörden letztes Jahr unter dem Schock der Flugzeugtragödie ein Massenlegalisierungsprogramm für illegale Einwanderer. 50.000 Anträge wurden gestellt. Bis jetzt sind davon laut CNCD genau drei bewilligt worden.
|