Badische Zeitung, 3.8.2000 BZ-Interview mit dem Freiburger Chirurgen und UN Mitarbeiter Michael Paulus über den Irak zehn Jahre nach dem Krieg "Sanktionen stützen den Diktator" FREIBURG. Zehn Jahre nach dem Einmarsch irakischer Truppen in Kuweit darben die Iraker. Schuld daran sind die Sanktionen, die die UNO nach dem Krieg gegen das Land verhängt hat. Diktator Saddam Hussein dagegen konnten sie nichts anhaben: Seine Macht ist uneingeschränkt. Annemarie Rösch sprach mit dem Chirurgen Michael Paulus aus Freiburg, der für die UNO im Auftrag des Malteser Hilfsdienstes im Irak gearbeitet hat. BZ: Der Deutsche Hans von Sponeck ist aus Protest gegen die Sanktionen im Februar als Chefkoordinator des humanitären Hilfsprogramms der UNO im Irak zurückgetreten. Wie stehen Sie dazu? Paulus: Sponeck sagt, dass die Sanktionen mörderisch sind. Die Ernährung des Landes kann nicht mehr sichergestellt werden. Das sehe ich genau so. Die Iraker sind heute ein Volk in Lumpen. Manchmal zeigen mir Menschen, die barfuß zu mir kommen, weil sie keine Schuhe mehr haben, Bilder aus der Zeit vor dem Krieg. Sie könnten irgendwo bei uns hier in der Gegend aufgenommen sein. Fröhliche Menschen am Strand, schick, mit einem breitkrempigen Sonnenhut. Der Irak war wirklich einmal ein modernes Land, ich selbst kenne ihn noch aus den 60er Jahren. Alles funktionierte damals: der Strom, die Kanalisation. Die irakischen Ärzte hatten vor dem Krieg weltweit einen ausgezeichneten Ruf. BZ: Die Sanktionen sind aber doch etwas gelockert worden. Das Land darf Öl verkaufen und kann dafür eine gewisse Menge an Lebensmitteln einführen. Paulus: Das stimmt, aber von den 5,2 Milliarden Dollar, die der Erlös aus dem Erdölgeschäft bringt, gehen bis zu 30 Prozent in die UNO-Verwaltung. Dann müssen Lastwagen gekauft werden, um die Lebensmittel zu den Menschen zu transportieren. Am Ende bleibt nur etwa die Hälfte der Summe übrig. Damit kann aber die Ernährung der 22 Millionen Iraker nicht sichergestellt werden. Vor dem Krieg standen jedem Iraker 3700 Kalorien pro Monat zur Verfügung. Heute sind es nur noch 2300. Das reicht nicht aus, um einen erwachsenen Menschen zu ernähren. BZ: Warum produziert das Land denn nicht selbst mehr Lebensmittel, um die Bevölkerung zu versorgen, der Irak ist doch reich an Wasser, landwirtschaftlichen Flächen? Paulus: Da das Land abgeschottet ist, fehlt es an allem. Um Lebensmittel herzustellen, bedarf es ja nicht nur des Saatguts. Man braucht Öl, um die Maschinen in den Fabriken zu schmieren, Lager müssen gewechselt werden. Die Nahrungsmittelindustrie steht heute still, weil die Ersatzteile fehlen. Es gibt keine Reifen mehr für die Lastwagen, die die Nahrungsmittel zu den Menschen bringen könnten. Und das gilt nicht nur für die Nahrungsmittelindustrie, so sieht es überall aus. BZ: Wie sehen ihre Erfahrungen als Arzt aus? Paulus: Im Irak sterben heute 7000 Kinder pro Woche, weil sie nicht genug zu essen haben, weil Medikamente fehlen, um sie zu behandeln. Das Krankenhaus in Umm Qasr, dem Ort, wo sich auch das UNO-Hauptquartier mit seinem Hospital befindet, war einmal eine wunderbare Anlage. Heute gibt es keinen Operationssaal mehr, alles ist weg, verrottet. BZ: Warum sorgt der Staat denn nicht wenigstens dafür, dass die Krankenhäuser funktionstüchtig bleiben? Paulus: Es gibt keine Glühbirnen, keine Pinzetten, keine Desinfektionsmittel. Also ist es unmöglich, eine Operation durchzuführen. Die Ärzte bleiben weg, die Patienten auch. Das Krankenhaus verwahrlost. Da alles fehlt, um zu operieren, schwindet auch die Zahl der Ärzte, die dazu in der Lage wäre. Ältere Ärzte liefern uns perfekte Diagnosen und Therapievorschläge, wenn sie Menschen zu uns schicken, weil sie sie selbst nicht behandeln können. Junge Ärzte können das nicht. Ihnen fehlt die Praxis. Im Irak ist aufgrund der Sanktionen so viel Wissen verlorengegangen, dass es mindestens eine Generation brauchen wird, um das wieder wettzumachen. BZ: Ist nicht das irakische Volk an seiner Misere selbst schuld? Es hat nichts unternommen, den Diktator zu beseitigen. Paulus: Die Sanktionen tragen nur dazu bei, dass Saddam Hussein noch fester im Sattel sitzt. Die Menschen sind so mit ihrem Überleben beschäftigt, dass sie sich nicht mehr um die Defizite des Regimes kümmern können. Hinzu kommt, dass die Amerikaner und Briten seit 1998 wieder den Irak bombardieren, weil Saddam Waffeninspektionen behindert hat. Seither sind kritische Stimmen noch weniger geworden. Die Menschen empfinden die Bombardierungen als Aggression gegen das Volk. Also stellen sie sich hinter Saddam, der nicht müde wird, die Politik Amerikas anzuprangern. In der deutschen Außenpolitik ist das Bewusstsein durchaus vorhanden, dass die Sanktionen kontraproduktiv sind. Doch die Amerikaner blockieren leider jeden Vorstoß in Richtung Aufhebung.
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