junge Welt, 05.08.2000 Staatliche Repression in der Türkei ungebrochen? jW sprach mit Elli van Reusel, Mitglied in der Menschrechtsorganisation »Peoples Rights ch« (Die belgische Ärztin beobachtet die aktuellen Proteste gegen die Einführung der Isolationshaft in der Türkei) F: Angehörige und Unterstützer politischer Gefangener haben am Donnerstag in Istanbul gegen die anhaltenden Polizeiübergriffe protestiert. Dabei kam es erneut zu Polizeiattacken. Was ist geschehen? Anfang der Woche wurde die Karawane gegen die Einführung der Isolationszellen, die von Istanbul nach Ankara zog, von Polizei und Militär angegriffen. Die Angehörigen und Unterstützer der politischen Gefangenen, die sich in einer Angehörigeninitiative organisiert haben, wollten daraufhin beim Istanbuler Gerichtshof Anzeigen gegen die Polizeikräfte erstatten, von denen sie attackiert wurden. Zudem haben sie eine Erklärung veröffentlicht, in der die Praktiken der türkischen Polizei angeprangert werden. Als sie das Gerichtsgebäude am Donnerstag verließen, wurden sie erneut von Spezialeinheiten der Polizei angegriffen. Die Sicherheitskräfte gingen mit äußerster Brutalität auch gegen Frauen und Kinder vor. Die Menschen wurden ziellos mit Eisenstangen zusammengeschlagen. Es war scheinbar ein totales Chaos. Tatsächlich war es aber ein geplanter Überfall, um den legitimen und gewaltfreien Widerstand der Angehörigen zu brechen. F: Wie haben Sie als Beobachterin einer internationalen Organisation reagiert? Ich war in dem Moment natürlich sehr aufgebracht und wütend. In einer solchen Situation ist man dem Geschehen hilflos ausgeliefert. In dem Chaos sah ich eine alte Frau auf der Straße liegen, die schwer verletzt war und dringend ärztliche Hilfe brauchte. Ich reagierte, wie ich es gelernt habe, und begann, Erste Hilfe zu leisten. Ich forderte die Polizisten auf, einen Krankenwagen zu rufen. Es dauerte ewig, bis endlich einer kam. Als wir das Krankenhaus erreichten, sollten wir die notärztliche Behandlung im voraus bezahlen. Wir konnten uns die Behandlung nicht leisten und fuhren weiter zum nächsten Krankenhaus. Dort wurden wir von Station zu Station geschickt, bis wir schließlich in der psychiatrischen Abteilung landeten. Erst nach langwierigen Auseinandersetzungen wurde die Frau geröntgt. Der zuständige Arzt brachte die Sache auf seine eigene Art wieder in Ordnung: Er attestierte seiner Patientin einen Autounfall. Als ich aus dem Behandlungsraum herauskam, sah ich, wie Beamte in Zivil die Krankenschwestern über die Patientin befragten. Das ist ein fundamentaler Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht. F: Wie bewerten Sie also die aktuelle Menschenrechtslage in der Türkei? Die fatale Lage der Menschenrechte in der Türkei ist bekannt. Ich konnte mir aber zu keinem Zeitpunkt vorstellen, daß der Staat so weit geht. Ich glaube nicht, daß sich im letzten Jahr in bezug auf die Menschenrechte in der Türkei etwas verbessert hat. Das Beispiel dieser mißhandelten Angehörigen zeigt aber auch, daß das barbarische Regime trotz Folter und Repression den Widerstand nicht brechen kann. Gerade in bezug auf die aktuelle Debatte um Isolationshaft bleibt eine beunruhigende Frage: Wenn sie eine Handvoll friedlicher Demonstranten, größtenteils ältere Frauen, vor laufenden Fernsehkameras so brutal zusammenschlagen, was machen sie dann wohl mit den politischen Gefangenen in den Gefängnissen? Interview: Arian Wendel, Istanbul
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