Stuttgarter Zeitung, 4.8.2000 Die Opposition ist zu hungrig für einen Aufstand Der Irak ist seit dem Golfkrieg um Jahrzehnte zurückgefallen. Zehn Jahre UN-Sanktionen haben die Bevölkerung arm, Saddam Hussein unantastbar und die Staatengemeinschaft ratlos gemacht. Von Astrid Frefel, Kairo Geschäfte in Bagdads Zentrum, in denen es alles zu kaufen gibt, was einen klingenden Namen hat, und Restaurants, in denen erlesene Speisen aufgetragen werden, sind kein Beweis, dass nach zehn Jahren die Wirkung der Sanktionen langsam nachlässt. Sie sind im Gegenteil ein Beweis dafür, dass die Sanktionen die Falschen treffen. Ein kleine Schicht von Irakern, meist verbandelt mit der regierenden Baath-Partei und den Sicherheitskräften, versteht es immer besser, die Lücken zu nützen. Geschmuggeltes Öl bringt dieser Kaste monatlich Einnahmen von vielen Millionen Dollar. Vor allem der Schwarzhandel über die Türkei blüht mit Billigung der internationalen Gemeinschaft. Die Masse der Bevölkerung kämpft dagegen ums nackte Überleben. Der Irak ist von einem Staat mit gehobenen mittleren Einkommen auf das Niveau eines unterentwickelten Landes mit einem Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung von weniger als 700 Dollar zurückgefallen. Die Verschlechterung der sozialen Indikatoren, etwa die Zunahme der Kindersterblichkeit, ist beispiellos in der modernen Geschichte. Familien-, Stammes- und Religionszugehörigkeit haben wieder an Bedeutung gewonnen, um das Leben zu organisieren. Die Infrastruktur, vor allem Strom- und Wasserversorgung, sowie das Schul- und Gesundheitssystem sind teilweise zusammengebrochen. Eine ganze Generation von Jugendlichen ist schlecht oder gar nicht ausgebildet. Viele Kinder müssen arbeiten, um zum Unterhalt der Familie beizutragen. Das Gehalt eines Lehrers hat heute gerade noch den Gegenwert von vier Dollar. Kritiker wie Hans von Sponeck, der im April aus Protest von der Leitung des UN-Hilfsprogramms zurückgetreten ist, halten das Embargo deshalb für eine Verletzung der elementarsten Grundrechte wie des Rechts auf Leben, Gesundheit und Erziehung. Im laufenden Halbjahr hat UN-Generalsekretär Kofi Annan dem Irak 7,1 Milliarden Dollar im Rahmen des Öl-für-Nahrungsmittelprogramms zugeteilt. Diese Nahrungs- und Arzneimittelimporte haben seit 1996 zwar die Grundversorgung etwas verbessert, sie lösen aber die Infrastrukturprobleme des Landes nicht. Zudem ist das Regime immer darauf bedacht, zuerst das eigene Überleben zu sichern. "Ein Sanktionsschema, das vom guten Willen Saddam Husseins abhängt, ist grundsätzlich falsch'', heißt es in einem Kommissionsbericht des britischen Unterhauses. Zu den Kritikern des Embargos gehören in der Zwischenzeit auch einstige Befürworter wie ehemalige Unscom-Waffeninspektoren. Gegen eine weitere Verlängerung der Sanktionen sprach sich auch der französische Außenminister Hubert Védrine in einem Interview mit der arabischen Zeitung "Al-Hayat'' aus. Sie seien grausam, ineffizient und gefährlich für die soziale Kohäsion, sagte Védrine. Frankreich hatte sich bei der Verabschiedung der letzten UN-Resolution über die Schaffung einer neuen Waffeninspektionsmission der Stimme enthalten. Je länger die Sanktionen dauern, die die UN am 6. August 1990 beschlossen haben, je mehr zeigt sich, dass sie nicht nur die Falschen treffen, sondern das Regime darüber hinaus gar noch stärken. Hungrige Menschen haben keine Energie, um sich politisch zu engagieren. So bleibt die Opposition trotz aller US-Anstrengungen praktisch inexistent. Die wichtigste oppositionelle Gruppierung, der Irakische Nationalkongress, habe im US-Kongress immer noch mehr Einfluss als im eigenen Land, lautete kürzlich das Fazit einer Tagung in Amman. Die Sanktionshardliner USA und Großbritannien stehen unter immer größerem Rechtfertigungsdruck. Mehrere Golfstaaten haben mit Bagdad wieder diplomatische Beziehungen aufgenommen. Auch westliche Länder sind wieder vermehrt aktiv. Eine koordinierte Politik gibt es aber auf keiner Seite. Noch im August sollen die neuen Waffeninspektoren unter dem schwedischen Diplomaten Hans Blix bereit sein, ihre Mission im Irak wieder aufzunehmen. Spätestens dann wird die Diskussion wieder aufflammen. Zusätzliche Informationen im Internet abrufbar: UN-Programm "Öl für Nahrung'' (engl.):www.un.org/Depts/oip
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