Badische Zeitung, 8.8.2000 Asylbewerber wählen die Kirche als letzte Zuflucht vor der Abschiebung / Die Polizei könnte jederzeit die Gotteshäuser räumen Die Angst als ständiger Begleiter TÜBINGEN/BAD SCHUSSENRIED (lsw). Seit das Asylrecht 1993 geändert wurde, ersuchen mehr ausländische Familien um Kirchenasyl. Zurzeit befinden sich elf Familien in Baden-Württemberg in der Obhut der Kirchen. Die Landesregierung duldet zurzeit noch solche Fälle, kritisiert sie aber zugleich. Ein Papierschnipsel klebt am Briefkasten des Pfarrhauses. "Güler" - die Handschrift mit blauem Kugelschreiber ist der einzige Hinweis auf die kurdische Familie, deren neues Heim kein Zuhause ist. "Das ist wie eine kleine Festung. Die Tür ist immer abgeschlossen." Pfarrer Helmut Zwanger von der evangelischen Gemeinde St. Martin in Tübingen atmet tief durch. "Ich habe die Nacht, bevor die Familie kam, kein Auge zugemacht. Man weiß ja nicht, was passiert." Zum ersten Mal in seiner Amtszeit fordert der 58-jährige Geistliche den Staat offen heraus. Er gewährt den Gülers seit Anfang August Kirchenasyl. Sonst würde die Familie in die Türkei abgeschoben. Angst haben auch Najah Abdullahad und ihre vier Kinder in Bad Schussenried. Nachdem das Tübinger Regierungspräsidium Anfang April den endgültigen Abschiebungsbescheid geschickt hat, wagt sich die syrische Familie nicht mehr aus dem Gemeindehaus der evangelischen Christuskirche. "Die Polizei könnte jederzeit rein", sagt Beate Walaschek vom 20-köpfigen Unterstützerkreis der Familie. In ganz Baden-Württemberg haben die evangelische und katholische Kirche nach eigenen Schätzungen mindestens elf Familien in ihrer Obhut. "Das Problem verschärft sich", sagt Volker Kaufmann vom Diakonischen Werk Württemberg. "Jeden Monat rufen zehn bis 15 Pfarrer an und fragen um Rat wegen Kirchenasyl. Pfarrer Zwanger rechtfertigt seine Entscheidung mit der Tradition der christlichen Solidarität gegenüber Fremden und der "Verpflichtung aus der Geschichte des Dritten Reiches". "Der Staat ist nicht unfehlbar", meint er. Das gelte auch für den Rechtsstaat. Zwanger will Zeit gewinnen, damit der Fall Güler nochmals vor Gericht kommt: "Vielleicht wurde ja doch etwas übersehen." Auch sechs andere Tübinger Kirchengemeinden haben sich mit der Familie Güler solidarisiert und sammeln Spenden für deren Unterhalt. Ärzte haben eine kostenlose Behandlung angeboten. Die Gülers haben kein eigenes Einkommen mehr. Früher brachte der jüngste Sohn Ahmed etwas Lehrgeld nach Hause. "Als die Aufenthaltsgenehmigung ablief, wurde mir gekündigt. Aber mein Chef hat gesagt, er würde mich wieder einstellen", gibt der 19-Jährige sich optimistisch. Die Abdullahads in Bad Schussenried haben Glück, dass ihre Großfamilie legal in Süddeutschland und der Schweiz lebt. Sie versorgt sie mit dem Nötigsten. Der Unterstützerkreis hat für die Mutter und ihre Tochter Salem Arbeitsstellen in einem Altenheim und einer Gaststätte gefunden. "Wir können garantieren: Wenn die Abdullahads längerfristig anerkannt werden, sind sie von Sozialhilfe unabhängig", sagt Walaschek. In Syrien waren die Abdullahads Mitglieder einer christlichen Gemeinde. Wie sie sagen, gerieten sie in die Spannungen zwischen der kurdisch-moslemischen Mehrheit und der christlichen Minderheit, mussten Drohungen hinnehmen und den ungeklärten Tod des Vaters verkraften. Schließlich floh Najah Abdullahad 1991 mit den Kindern nach Deutschland. Die Gülers in Tübingen - politisch aktive Kurden - berichten von Folterungen bei der türkischen Polizei. Was genau in den Beamtenstuben geschah, will die Mutter Hatice Güler nicht sagen. Eingefallen sitzt sie auf einem Holzstuhl im Gemeindehaus. Ein ärztliches Gutachten bescheinigt ihr ein Trauma. Auch vor Gericht hatte sie geschwiegen. Ihr Anwalt Manfred Weidmann sieht darin einen möglichen Grund, warum die Verfolgung der Familie den Richtern nicht glaubhaft erschien. Die Verwaltungsgerichte in Karlsruhe und Freiburg hatten die Asylanträge abgelehnt. Die Fälle Güler und Abdullahad sind nach Ansicht Weidmanns typisch: "Es gibt ein- bis zweihundert solcher Härtefälle in Baden-Württemberg." Das Innenministerium hat die Ausweisung bekräftigt. Vorerst will aber das Regierungspräsidium Tübingen nicht eingreifen: "Praktisch passiert da nichts. Wir akzeptieren das Kirchenasyl", sagte eine Behördensprecherin. Die Verhandlungen können also dauern.
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