Bremer Nachrichten, 7.8.2000 Öcalan gibt sich staatsmännisch PKK-Chef kritisiert eigene Anhänger Istanbul. Einen ungewöhnlichen Kassiber konnten die türkischen Behörden in dieser Woche abfangen: Der Papst-Attentäter Mehmet Ali Agca, derzeit wohnhaft im Istanbuler Hochsicherheitsgefängnis Kartal, wandte sich damit an den auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan (Foto) - und zwar per eingeschriebenem Eilbrief. Das Schreiben wäre sowieso nie auf die scharf bewachte Insel gelangt, die seit Jahrzehnten kein Briefträger mehr betreten hat, doch Agca irrte sich bei der Anschrift auch noch in der Provinz. So landete das merkwürdige Schriftstück auf dem Schreibtisch eines Postbeamten auf der Halbinsel Gallipoli, der es der Staatsanwaltschaft übergab. Öcalan dürfte ohnehin kein Interesse an einer Brieffreundschaft mit dem exzentrischen Attentäter aus rechtsextremen Kreisen haben, denn er ist wieder einmal mit staatsmännischen Angelegenheiten beschäftigt: In einer Erklärung zum Jahrestag seines Befehls zum Truppenabzug aus der Türkei forderte der PKK-Chef in dieser Woche vermehrte Anstrengungen von Kurden wie Türken für einen echten Frieden im Land. Vor allem den eigenen Anhängern hielt er mit teils scharfen Formulierungen schwere Versäumnisse vor. Insgesamt hätten seine Friedensappelle die Türkei auf dem Weg zu einer Friedenslösung für die Kurdenfrage ein gutes Stück weitergebracht, bilanzierte Öcalan in einer von seinen Anwälten in Istanbul veröffentlichten Erklärung. "Ich denke, dass die Türkei seither große Entwicklungen durchgemacht hat", schrieb er. Allerdings sei diese Entwicklung noch längst nicht umfassend genug; vor allem fehle es an praktischen Schritten. Von Ankara forderte Öcalan dazu erneut eine Amnestie für die PKK-Kämpfer, die seit ihrem Abzug aus der Türkei in den nordirakischen Bergen sitzen und bislang vergeblich auf einen solchen Straferlass warten. Harte Kritik übte Öcalan aber vor allem an den eigenen Anhängern, die den Friedensprozess seiner Auffassung nach ebenfalls behindern. Einen "primitiven Nationalismus" warf der PKK-Chef den Kurden in seiner Bilanz etwa vor. "Ich will hier einmal Folgendes sagen", schrieb er dazu. "Nationalismus ist immer gleich, ob er von Unterdrückern oder Unterdrückten propagiert wird. Meiner Ansicht handelt es sich in allen Fällen um eine rückständige Erscheinung." Auch hätten die Kurden nicht besonders viel Kreativität an den Tag gelegt, um den Friedensprozess voranzubringen, bemängelte Öcalan. Der gesamten Demokratiebewegung in der Türkei warf der PKK-Chef vor, sich immer nur über den Staat zu beschweren und Zugeständnisse zu fordern, ohne eigene Angebote zu machen. Die von Öcalan auf den 2. August datierte und von seinen Anwälten am Donnerstag versandte Erklärung erschien am Freitag nur auszugsweise in der kurdischen Presse: Die PKK-kritischen Passagen waren daraus glatt weggestrichen. Die türkische Presse erwähnte die Erklärung mit keinem Wort. Öcalan wendet sich seit seiner Gefangennahme vor eineinhalb Jahren immer wieder mit Erklärungen an die Öffentlichkeit, die er seinen Anwälten bei deren regelmäßigen Besuchen auf Imrali übergibt. Rätselhaft ist allerdings, wie die Erklärungen zustande kommen: Offiziell darf Öcalan sich nur aus dem staatlichen Rundfunk und drei türkischen Zeitungen informieren. Dennoch zeugen die Äußerungen des PKK-Chefs immer von einer ausgezeichneten Kenntnis der Entwicklung nicht nur in der Türkei, sondern auch in der kurdischen Diaspora und in den nordirakischen Lagern der PKK-Kämpfer. Susanne Güsten |