junge Welt, 09.08.2000 Letzte Zuflucht vor Zynikern Baden-Württemberg: Elf Kirchenasyle schützen Flüchtlinge vor Abschiebung »Wer gegen Rechtsextremismus vorgehen will, muß Flüchtlingen endlich Menschenrechte gewähren«, forderte die PDS-Bundestagsabgeordnete Ulla Lötzer am Wochenende anläßlich eines Besuchs der »Bezirksstelle Asyl« im baden- württembergischen Freiburg. Die Zustände in diesen Lagern seien menschenunwürdig. Flüchtlinge unterschiedlicher Nationalität würden in engen Räumen zusammengepfercht. Aufgrund des Asylbewerberleistungsgesetzes erhielten sie nur zugeteiltes Essen und könnten nicht selbst über ihre Ernährung entscheiden. Sie würden ghettoisiert, soziale Kontakte mit Deutschen gäbe es so gut wie nicht, Möglichkeiten, gegen diese Zustände zu protestieren, existierten nicht. »Wer, wie verschiedene Minister der Landesregierung, Menschen in diesem Land auffordert, bei rassistischen Gewalttaten nicht mehr wegzusehen, ist verpflichtet, erst einmal die Zustände zu beseitigen, mit denen Flüchtlinge zu Menschen zweiter Klasse degradiert werden. Das erst macht sie zu Opfern von Rechtsextremen«, sagte die PDS-Politikern. Die rigorose Flüchtlingspolitik der schwarz-gelben Regierung des Erwin Teufel (CDU) steht seit längerem in der Kritik. »Baden-Württemberg ist bundesweit Vorreiter, wenn es darum geht, Flüchtlinge rücksichtslos und schnellstmöglich in die Länder zu deportieren, aus denen sie unter großen Mühen geflohen sind«, kritisiert die Tübinger Initiative »Kein Mensch ist illegal«. Ärztliche Gutachten, die eine Reiseunfähigkeit bescheinigen, würden im »Ländle« achtlos vom Tisch gewischt. Auf die zuständigen Bezirksstellen werde enormer Druck ausgeübt, ihre »Abschiebequoten« zu erfüllen. »Vor allem Flüchtlinge aus der Türkei werden derzeit rigoros abgeschoben, obwohl die Rückkehrgefährdung von amnesty international, Pro Asyl und anderen detailliert nachgewiesen wurde. Selbst der Lagebericht des Auswärtigen Amtes kann nicht mehr umhin, massive Menschenrechtsverletzungen in der Türkei zu dokumentieren«, so die Gruppe. Letzte Zuflucht vor einer Abschiebung ist immer häufiger das Kirchenasyl. Zur Zeit befinden sich in Baden- Württemberg elf Familien in kirchlicher Obhut. Erst Anfang August nahmen sieben katholische und evangelische Gemeinden Tübingens die kurdische Familie Güler in Kirchenasyl, um sich hinter ihre Forderung nach einem Bleiberecht zu stellen. Die Gerichte hatten die Asylanträge für vier der fünf Familienmitglieder abgelehnt. »Die Willkür bundesdeutscher Asylrechtssprechung zeigt sich im Fall Güler von ihrer zynischen Seite: Lediglich der älteste Sohn wurde als Asylbewerber anerkannt und ist inzwischen deutscher Staatsbürger«, erklärte »Kein Mensch ist illegal«. Es gebe keinen Grund dafür, diesen Status dem Rest der Familie zu verweigern. »Es ist ein Verbrechen, Menschen wie die schwer traumatisierte Frau Güler zurück zu ihren Folterern zu schicken. Das Tübinger Kirchenasyl ist ein Akt der Solidarität und eine Demonstration der Zivilcourage gegen eine absolut menschenverachtende Asylpolitik.« Die fünfköpfige Familie wohnt nun im Pfarrhaus der St. Martinskirche in Tübingen. In den übrigen Gemeinden werden Spenden für den Unterhalt gesammelt, Ärzte haben eine kostenlose Behandlung angeboten. Gemeindepfarrer Helmut Zwanger begründete seine Entscheidung mit der Tradition der christlichen Solidarität gegenüber Fremden und einer Verpflichtung aus der Geschichte des »Dritten Reiches«. »Der Staat ist nicht unfehlbar«, so der Pfarrer. »Jeden Monat rufen zehn bis 15 Pfarrer an und fragen um Rat wegen Kirchenasyl«, berichtet Volker Kaufmann vom Diakonischen Werk Baden-Württemberg. Die Landesregierung würde die Kriterien zur Abschiebung von Asylbewerbern zu streng auslegen und damit Kirchenasyl provozieren. »Das Problem verschärft sich«. Im Fall Güler will das Regierungspräsidium vorerst nicht eingreifen. Zwar bekräftigte das Stuttgarter Innenministerium, daß es keine »rechtsfreien Räume« geben dürfe, doch vorerst verhält man sich ruhig. »Wir akzeptieren das Kirchenasyl«, verlautbarte von offizieller Seite. Die Statistik macht Hoffnung: Bis 1997 sind bundesweit 70 Prozent der Kirchenasylfälle zugunsten der Asylbewerber gelöst worden. Martin Höxtermann, Freiburg |