Kleine Zeitung (A), 11.8.2000
Angst vor neuem Erdbeben in Istanbul
Die türkische Millionenmetropole Istanbul ist erdbebengefährdet und wird voraussichtlich irgendwann in den nächsten 30 Jahre von einem schweren Beben erschüttert. So unterschiedlich die Prognosen der Seismologen auch sein mögen - in einem Punkt stimmen viele Experten überein: Die türkische Millionenmetropole Istanbul ist erdbebengefährdet und wird voraussichtlich irgendwann in den nächsten 30 Jahre von einem schweren Beben erschüttert. Sollte Istanbul von einem ähnlich starken Erdbeben wie die Marmara-Region am 17. August 1999 betroffen sein, wird es Horrorszenarien zufolge nicht Tausende, sondern Zehntausende oder vielleicht sogar Hunderttausende Tote geben. Derzeit leben Schätzungen zufolge zwischen zehn und 15 Millionen Einwohner in der Stadt am Bosporus. Die Behörden versuchen, sich auf eine mögliche Katastrophe vorzubereiten - doch damit stehen sie vor einer nahezu unlösbaren Aufgabe. Durch die Zuwanderer aus Anatolien platzt Istanbul aus allen Nähten. Ein Großteil der rund 1,2 Millionen Gebäude wurde illegal und ohne Einhaltung von Bauvorschriften errichtet. Die Folgen dieser schlampigen Bauweise waren nach dem Beben im vergangenen Jahr, bei dem offiziellen Angaben zufolge rund 17.200 Menschen ums Leben kamen, deutlich zu sehen: Während viele Häuser die Katastrophe fast unbeschadet überstanden, stürzten Tausende Gebäude ein: Weil Zement mit billigem Sand vom Strand vermischt und an Stützen und Pfeilern gespart wurde. Trotz Warnungen setzen noch immer viele Familien ein oder zwei Stockwerke auf die Flachdächer auf, wenn nicht mehr genügend Platz ist.
In Istanbul fragen sich nun viele Menschen voller Angst, ob ihr Haus ein schweres Beben überstehen würde und ob ihr Viertel sicher ist. Pläne zeigen die Bodenbeschaffenheit der Stadtteile auf. Wer es sich leisten kann, zieht aus besonders gefährdeten, auf der Karte rot eingezeichneten Gegenden weg und sucht sich in Vierteln mit felsigem Boden eine neue Bleibe. Einige Istanbuler versuchen, ihre Wohnung sicherer zu gestalten: Damit sie bei einem Beben nicht durch umstürzende Möbel verletzt werden, schrauben sie Regale und Schränke an die Wände. Andere haben sich Notfalltaschen mit Verbandszeug, Taschenlampe und einer Trillerpfeife zugelegt, so können sie - falls sie unter Trümmern eingeschlossen sein sollten - zumindest auf sich aufmerksam machen.
Weil nach der Katastrophe vom 17. August tagelang Chaos herrschte, versucht das Katastrophenzentrum, die Stadt auf das Schlimmste vorzubereiten. Statiker überprüften Schulen, Verwaltungsgebäude und Wohnhäuser. Beschädigte Gebäude wurden abgerissen oder verstärkt. Doch viele Menschen wohnen weiterhin in Häusern mit Rissen. Chaos herrschte damals auch, weil Telefon- und Stromleitungen zusammengebrochen waren. Damit Einsätze künftig überhaupt koordiniert werden können, wurden besondere Telefonleitungen gelegt. Das Katastrophenzentrum schaffte außerdem Generatoren und schweres Räumgerät an, lagerte 1,1 Millionen Zelte ein und richtete Lebensmittel- und Medikamentenlager ein. Auch die Zahl der Einsatz- und Rettungskräfte wurde erhöht. Während es vor einem Jahr in Istanbul nur 300 Retter gab, sind es inzwischen mehr als 5.200 Einsatzkräfte.
Vor kurzem haben die Behörden mit Katastrophenübungen begonnen - diese unangekündigten Übungen haben jedoch bereits zahlreiche Bewohner in Angst und Schrecken versetzt. Die Menschen glaubten, dass ein Erdbeben bevorstünde und rannten in Panik auf die Straßen. Dabei erklären Seismologen immer wieder, dass Erdbebenvorhersagen nicht möglich sind. Allerdings arbeiten sie an einem Warnsystem: Da Funkwellen die Stadt einige Sekunden vor den Erdbebenwellen erreichen würden, könnten zumindest Kraftwerke abgeschaltet und Gasleitungen geschlossen werden.