junge Welt, 11.08.2000
Interview : Welche Ursachen hat der Antisemitismus?
Fritz Teppich, Jahrgang 1918, wurde als Jugendlicher vom deutschen Faschismus
zur Emigration gezwungen. jW sprach mit ihm
F: Offizielle und offiziöse Stellen der Bundesrepublik veranstalten derzeit eine Kampagne gegen Rassismus und Gewalt. Eine Partei wie die CDU, die zuletzt in Hessen und Nordrhein- Westfalen mit ausländerfeindlichen und rassistischen Parolen Wahlkämpfe bestritt, steht auf einmal in der ersten Reihe des Antifaschismus. Besonders anfällig für Neonazismus sind nach Meinung von FAZ bis taz die Ostdeutschen. Wird da nicht etwas vergessen?
Die Wurzeln des bundesrepublikanischen Rassismus- Antisemitismus unterliegen offensichtlich, wie ich aus Berichten in verschiedensten Medien zur Sache ersehe, einem Tabu. Unbestritten wurde der Nachkriegsantisemitismus in Westdeutschland 1946 mit dem Übergang der westlichen Besatzungsmächte zum Kalten Krieg gegen die UdSSR etabliert. Im Zuge des beginnenden Kampfes gegen Rot wurde in kurzer Zeit von der Entnazifizierung zur Renazifizierung übergegangen. Das deckte sich bald darauf mit der Verfolgung von Liberalen und Linken in den USA durch Senator McCarthy. Auch viele Jüdinnen und Juden wurden seine Opfer.
F: Was geschah damals im Westen Deutschlands?
Besatzungsbeamte und Offiziere, vor allem vor Hitler geflohene Exilanten, die nun USA-Staatsangehörige waren, wurden abgelöst, so Stefan Heym, oft in die Vereinigten Staaten zurückbeordert. Zugleich wurde mit der Entlassung von nazistischen Kriegsverbrechern aus westalliierter Haft begonnen. Von bundesdeutscher Seite kam dann die einschneidende Verabschiedung des Artikel 131 Grundgesetz. Dadurch wurde das Gros der beamteten Diener, Ideologen, Juristen, Militärs usw. des Hitlerreiches wieder auf Staatsposten gehievt. Damit waren Rassisten und Antisemiten erneut in den westhörigen Nachkriegsstaat integriert. Als Lehrer, Richter, Offiziere etc. konnten sie von da ab über ein halbes Jahrhundert lang entsprechende Orientierungen in Nachkriegsgenerationen einpflanzen.
F: Können Sie Beispiele nennen?
Hier nur eine Auswahl persönlicher Erfahrungen. Seit den 50er Jahren wohnte ich mit Familie in Berlin-Wilmersdorf, also in Westberlin. Mein jüngerer Sohn besuchte damals die Grundschule in der Charlottenburger Delbrückstraße. Angesichts kraß antisemitischer Diskriminierungen des kleinen Jungen mußte ich ihn auf in die Charlottenburger Waldschule ummelden. Mir selbst wurde aus politischen Gründen sogenannte Wiedergutmachung abgelehnt. Ein ehemaliger Nazi-Richter hatte über meinen Einspruch zu entscheiden. Weiter: Über meine Schwester Nela war ich mit der Familie Kempinski von »M. Kempinski & Co.« verschwägert. Das Unternehmen wurde 1937 »arisiert«. Der Mitarisierer und Agent des Reichssicherheitshauptamtes Steinke konnte den Raub in Westberlin über 1945 hinaus bewahren. Sogar Proteste gegen das Zeigen des »Arisierungs«-Logo an der nunmehrigen Hotelfassade über dem Kurfürstendamm wurden jahrelang ignoriert. Das entsprechende Schreiben der »Judenfreundin« Hanna-Renate Laurien, der ehemaligen Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin, bewahre ich auf.
F: Waren das nicht Ausnahmen?
Keinesfalls! Die BRD sieht sich als Nachfolger des Reiches! Das während der Auschwitz-Epoche entweihte Deutschland-Lied ist weiter BRD-Nationalhymne. Erster Bundespräsident war Theodor Heuss, der 1933 für die Ermächtigung Hitlers gestimmt hatte. Mit Schwarz-Weiß-Rot dürfen entsprechende Leute wieder durch das Brandenburger Tor ziehen. Nahezu Woche für Woche werden Andersaussehende mit Fliegerstiefeln zu Tode oder krankenhausreif getrampelt. Wie das einst war, kann man z. B. bei Tucholsky nachlesen.
F: Weshalb haben all das auch Juden so lange hingenommen?
Die Masse der Shoa-Überlebenden war nach Kriegsende am Ende ihrer Kräfte. Globke und andere Kenner ihrer Leiden wußten das auszunutzen. Politische Wiedergutmachung wußten sie zu vernebeln, d. h. sie verhinderten die politische Entgiftung der BRD. Die meisten, die der Ermordung entronnen waren, begnügten sich mit den für sie momentan wichtigen Trostgeldern, fälschlich Wiedergutmachung genannt. Das Ergebnis sehen wir seit dem Abwürgen der DDR: Neonazis können sich nun in der Bundesrepublik wieder erlauben zu brennen, zu sengen, zu prügeln und totzutrampeln. Wieder, wie einst in der von mir erlittenen Weimarer Republik.
F: André Brie hat soeben in der Berliner Zeitung der DDR eine Mitschuld für das Hochschlagen der Neonaziwellen zuzuschieben versucht. Was meinen Sie dazu?
Auf deutsch: Brie, der Nachgeborene und als Diplomatensohn privilegiert im Schutz der DDR Aufgewachsene, gibt uns Juden die Schuld am heutigen reaktionären Elend. Denn was war wirklich? In der BRD konnte oder durfte nie ein Jude oder eine Jüdin in eine Kernposition der Regierung gelangen - dagegen Ex-Diener Hitlers reihenweise. In der DDR das Gegenteil: Juden, d. h. nach jüdischem Verständnis Kinder jüdischer Mütter, gelangten zu vielen Hunderten bis in allerhöchste Positionen. Im Politbüro der SED saßen z. B. mit Albert Norden und Hermann Axen ausgezeichnete Kämpfer gegen den Faschismus. Juden hatten wichtigste Positionen in den Parteien der DDR, in Justiz, Polizei, Militär, den Medien, der Wissenschaft und der Wirtschaft inne. Fortschrittlichen Juden und anderen herausragenden Antifaschisten versucht Brie nun die Schuld für alt eingebrannte reaktionäre Verhaltensweisen des BRD-Regimes anzulasten. Das ist ungeheuerlich. Als Shoa-Überlebender sage ich André Brie: Mit Ihrer Lästerung von Auschwitz-Überlebenden und anderen Geschundenen, die in der DDR endlich Heimat und Sicherheit gefunden hatten, überschreiten Sie das Maß des Erträglichen. Schande über Sie!
Interview: Arnold Schölzel