Neue Zürcher Zeitung (CH), 16. 08. 2000
Düstere Vergangenheit in Batman
Ungesühnte Kriegsverbrechen im Südosten Anatoliens
Während des Kriegs zwischen kurdischen Nationalisten der PKK und staatlichen türkischen Sicherheitskräften häuften sich in der Stadt Batman sogenannte anonyme Morde. Laut einem unlängst veröffentlichten offiziellen Bericht bestätigt sich nun, was lange nur vermutet worden war: Die islamistische Untergrundbewegung, die sich als türkischer Hizbullah bezeichnete, stiftete mit staatlicher Hilfe meist minderjährige Jugendliche zu Mordtaten an.
it. Batman, im Juli Der bekannteste Sohn in der jüngeren Geschichte der südostanatolischen Stadt Batman ist Hüseyin Velioglu, der geheimnisumwitterte Chef der türkischen Untergrundorganisation Hizbullah. Bilder dieses jungen Mannes mit dem langen schwarzen Bart und dem stechenden Blick machten am Tag seines Todes Anfang Januar landesweit die Runde. Auf der Suche nach islamistischen Extremisten hatte die türkische Polizei Velioglus Wohnung im Istanbuler Aussenviertel Keykoz gestürmt. Als der Schusswechsel zwischen Polizisten und Bewohnern endlich aufhörte, war Velioglu tot. Der Leichnam wurde in seine Heimatstadt Batman gebracht und von ein paar schwarz verschleierten Frauen begraben. Heute erinnert ein schlichtes Grab im Friedhof in einem Aussenviertel an Velioglu. Nichts ruft in Erinnerung, dass dieser Mann das Leben der rund 400 000 Einwohner Batmans zwischen 1991 und 1997 in einen Albtraum verwandelt hatte.
Morde für den Eintritt ins Paradies
In dieser Zeitspanne war Batman wegen einer erschreckend hohen Zahl sogenannter
anonymer Morde in die Schlagzeilen gerückt. Der kurdische Abgeordnete Mehmet
Sincan verlor sein Leben 1991 mitten im belebten Stadtzentrum, genauso wie auch
der damalige regionale Vorsitzende des Menschenrechtsvereins (IHD), Siddik Tan,
einige Monate später. Laut den Angaben des IHD haben nach 1991 insgesamt
830 kurdische Oppositionelle in Batman bei bisher mehrheitlich unaufgeklärten
Attentaten ihr Leben verloren. Die überwältigende Mehrheit von ihnen
wurde mit einer Kugel im Hinterkopf oder mit aufgeschlitzter Kehle gefunden
- was unzweideutig auf eine Täterschaft des Hizbullah schliessen liess.
Eine weitere Besonderheit dieser Mordserie in Batman war, dass viele der bis
heute überführten Täter minderjährig waren. In den Koranschulen,
die damals von Velioglus Bewegung kontrolliert wurden, sei ihnen eingebleut
worden, dass ihre Opfer gefährliche Ungläubige seien, gestanden später
einige der gefassten, oft kaum 15-jährigen Mörder. Man habe ihnen
gesagt, sie würden sich mit ihrer Tat den Eintritt ins Paradies sichern.
Es habe Zeiten gegeben, da täglich vier oder fünf Personen irgendwo in Batman verblutet seien, erzählt Arif Aslan, Chefredaktor von Batmans ältester Tageszeitung, «Cagdas». Das Terrorregime Velioglus beeinflusste auch den Alltag der nicht politisierten Bürger. Rund 180 Schulen seien zeitweise geschlossen gewesen, weil die Lehrer sich geweigert hätten, nach Batman zu kommen, berichtet der stellvertretende Bürgermeister Adnan Aba. Aus Angst um ihr Leben hätten auch Ärzte, Richter und andere Staatsangestellte die Stadt gemieden. In den wenigen noch offenen Schulen durften Buben und Mädchen nicht miteinander sprechen, weil sie sonst das Gebot des Korans verletzt hätten. Aus religiösen Gründen wurden auch die vier Kinos der Stadt geschlossen. Noch heute stellt sich die Frage, wie es möglich war, dass sich diese türkische Garnisonsstadt derart dem Terror religiöser Extremisten unterordnen musste, ohne dass die Armee als Hüterin über den Laizismus reagiert hat. Kontakte zu staatlichen Sicherheitskreisen Der türkische Hizbullah, der mit der gleichnamigen libanesischen Organisation nichts zu tun hat, ist laut offizieller Lesart eine streng islamistische Bewegung. Ihre Entstehung wird damit begründet, dass im kurdischen Südosten als Reaktion auf die marxistische Kurdische Arbeiterpartei (PKK) eine religiöse Gegenkraft gewachsen sei. Der Hizbullah rekrutierte in Batman seine Anhänger hauptsächlich unter jungen kurdischen Flüchtlingen, die während des Kriegs aus ihren Dörfern vertrieben worden waren. In Moscheen und Koranschulen wurden die Gläubigen gegen die kurdischen Nationalisten der PKK aufgehetzt. Bereits 1992 berichtete der damals 22-jährige Journalist der prokurdischen Tageszeitung «Yeni Ülke», Cengiz Altun, über Verbindungen zwischen den Militanten des Hizbullah und staatlichen Sicherheitsorganen. Nur wenige Tage später fand man ihn, von sieben Kugeln durchsiebt, tot auf der Strasse. Im August 1993 kam eine vierköpfige parlamentarische Kommission, die in Batman die Ursachen der anonymen Morde zu ermitteln versuchte, zu derselben Schlussfolgerung wie der junge ermordete Journalist.
Die Kommission hatte damals im Büro des Provinzgouverneurs Batmans Polizeidirektor, Öztürk Yildiz, getroffen. Er hatte ihnen erklärt, dass der Hizbullah in den umliegenden Dörfern Gercüs, Sekili, Cicekli und Gönüllü Ausbildungslager unterhalte. Weiter bestätigte er, dass der Hizbullah von der türkischen Gendarmerie militärisch ausgebildet und logistisch unterstützt werde. Auch die Bestätigung, wonach viele der anonymen Täter minderjährig seien, stammte von ihm. Das Gespräch wurde von dem Richter Akman Akyürek auf einer Kassette aufgezeichnet. Diese Kassette verschwand laut türkischen Presseberichten, kurz nachdem der Richter Akyürek 1997 bei einem Autounfall, dessen Ursachen nie geklärt werden konnten, ums Leben gekommen war.
Grünes Licht von Ciller
Die Berichte über staatliche Unterstützung des Hizbullah gerieten
lange in Vergessenheit. Im Januar dieses Jahres stiess die Polizei in manchen
Städten der Westtürkei dann immer häufiger auf verstümmelte
Leichen, die sich alle als Opfer des Hizbullah herausstellten. Mit einem Male
erreichte die blanke Gewalt der islamistischen Fanatiker das Bewusstsein der
türkischen Öffentlichkeit. Als dann im Februar noch bekannt wurde,
dass in Batman Waffen der Sicherheitskräfte angeblich verschwunden waren,
wuchs die Angelegenheit zum Skandal. Obwohl von offizieller Seite jegliche staatliche
Unterstützung des Hizbullah hartnäckig dementiert wurde, ordnete der
Regierungschef Ecevit eine neue Ermittlung an. Deren Ergebnisse wurden am 9.
Juli veröffentlicht. Dieser offizielle Bericht bestätigt faktisch,
was in Batman längst vermutet worden war. Doch er übertrifft selbst
die schrecklichsten Phantasien.
Laut den Ermittlungen hat der Gouverneur von Batman zwischen 1993 und 1997, Salih Sarman, von der damaligen Regierungschefin Tansu Ciller grünes Licht erhalten, um in seiner Region «effektive Massnahmen gegen die PKK» zu ergreifen. Er hatte eine eigene Truppe von 1000 Mann, hauptsächlich staatstreue kurdische Dorfschützer, aufgestellt. Deren Aufgabe war es, in Uniformen der PKK gekleidet, Dorfbewohner zu terrorisieren und in die Flucht zu treiben. Um seine Sondertruppe auszurüsten, hatte der Gouverneur zwischen 1994 und 1996 Waffenkäufe im Wert von 2,7 Millionen Dollar getätigt. Weiter trafen mit zwei Militärtransportflugzeugen am 9. Juni Waffen im Wert von 507 000 Dollar zu Sarmans Verfügung ein. Laut dem Bericht ist dieser Waffentransport nirgendwo offiziell verzeichnet. Diese Waffen sollen in die Hände des Hizbullah gelangt sein.
Diese seit Erscheinen des Berichts als Batman- Affäre bezeichneten Begebenheiten sind in der Meinung des stellvertretenden Regierungschefs, Mesut Yilmaz, ein Ausdruck davon, wie der Staat über den legalen Rahmen hinausging und ein Monster namens Hizbullah kreierte, um ein zweites Monster, die PKK, zu eliminieren. Eine derartige Praxis würde im Balkan international als Kriegsverbrechen geahndet. Die Batman-Affäre hat in der Türkei aber keine Folgen. Es sei nicht richtig, ihm die ganze Verantwortung zuzuschreiben, liess der ehemalige Gouverneur Sarman die Medien wissen. Schliesslich habe er mit der Erlaubnis der Regierungschefin gehandelt.
Seine damalige Chefin dementierte Sarmans Geständnis nicht. Ciller erklärte gar, ohne zu zögern, sie würde wiederum ähnlich vorgehen, wenn es darum gehe, Terrorismus zu bekämpfen. Selbst den damaligen Staatspräsidenten, Demirel, scheint die Affäre nicht sonderlich zu beunruhigen. Wenn staatliche Interessen bedroht seien, könne der Staat zu Massnahmen greifen, die über die üblichen Praktiken hinausgingen, sagte er, als der Waffenskandal aufflog. Damit wolle er nicht sagen, so schränkte er ein, dass diejenigen, die den Staat führten, im Allgemeinen illegal handeln könnten. Doch es gebe einen Handlungsspielraum, um ausserhalb der Norm aktiv zu werden.
Der Vorsitzende der Anwaltskammer in Batman, Salih Atac, ist davon überzeugt, dass der Bericht weder für den ehemaligen Gouverneur noch für Ciller als dessen Vorgesetzte juristische Folgen haben wird. Es seien schon mehrere Ermittlungen über illegales Handeln staatlicher Organe im kurdischen Südosten durchgeführt worden - immer ohne jegliche Folgen. Keine dieser Ermittlungen sei je als Dossier einem Staatsanwalt übergeben worden, womit auch keine Tat bestraft werden konnte. Und dennoch ist Atac zufrieden. Die Macht des Hizbullah ist gebrochen, und die Koranschulen sind geschlossen. Batmans Armenviertel Hürriyet-Mahallesi, bis 1997 Hochburg des Hizbullah, macht in diesen Tagen den Eindruck eines toten Stadtteils. Die Fensterläden der Häuser sind geschlossen, und die Moscheen bleiben leer. Auf den Strassen sieht man kaum mehr verschleierte Frauen und stösst nur selten auf bärtige Männer. Batman wünscht heute offenbar nichts anderes so sehr, als seine dunkle Vergangenheit aus dem Gedächtnis zu tilgen.