Frankfurter Rundschau, 19.8.2000
Karlsruhe gibt afghanischen Flüchtlingen Recht
Verfassungsrichter: Bürgerkrieg schließt Anspruch auf Asyl nicht aus / Folgen für andere Fälle
Von Ursula Rüssmann
Hoffnung für Asylbewerber aus Afghanistan und anderen Bürgerkriegsregionen: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat zwei ablehnende Asylurteile des Bundesverwaltungsgerichts mit der Begründung aufgehoben, die Berliner Richter legten zu strenge Maßstäbe an das Vorhandensein quasi-staatlicher Verfolgung an. Pro Asyl rechnet mit weit reichenden Konsequenzen für ähnlich gelagerte Fälle.
FRANKFURT A. M., 18. August. Die Erste Kammer am zweiten Senat des Karlsruher Gerichts gab mit dem Beschluss, der der FR vorliegt, den Verfassungsbeschwerden afghanischer Flüchtlinge statt. Sie hatten Asyl beantragt, weil ihnen als früheren Funktionären des gestürzten kommunistischen Regimes heute in Afghanistan Verfolgung drohe. Die Verwaltungsgerichte hatten ihnen Recht gegeben; das Bundesverwaltungsgericht (BVG) kassierte die Entscheidungen aber mit der bisher üblichen Begründung, bei den Betroffenen könne von politischer Verfolgung keine Rede sein. Diese könne nur von einer stabilisierten, quasi-staatlichen Herrschaftsmacht ausgehen, die in Afghanistan aber aufgrund des andauernden Bürgerkriegs nicht existiere. Auch die massive Repression der Taliban ist nach Lesart der Berliner Richter somit keine politische Verfolgung.
So nicht, entschied nun das Bundesverfassungsgericht und wies die Fälle zur erneuten Prüfung nach Berlin zurück. Das BVG gehe von einer "zu eng gefassten Begrifflichkeit" für quasi-staatliche Verfolgung aus und habe damit die Anforderungen an das Vorliegen politischer Verfolgung nach Grundgesetz-Artikel 16 "überspannt", heißt es im Karlsruher Beschluss. Für künftige Entscheidungen macht das BVerfG Vorgaben, die die Chancen von Bürgerkriegsflüchtlingen auf Anerkennung erhöhen dürften: Die Frage der Staatlichkeit einer Verfolgung dürfe nicht allein nach "abstrakten staatstheoretischen Begriffsmerkmalen" geprüft werden, schreiben die Karlsruher Richter. Falsch sei auch die Annahme des BVG, mit der Herausbildung staatsähnlicher, zu politischer Verfolgung fähiger Strukturen sei nicht zu rechnen, solange ein Bürgerkrieg andauere. Ob von einer Bürgerkriegspartei politische Verfolgung ausgehen kann, hängt laut Karlsruhe vielmehr "maßgeblich" davon ab, ob diese "zumindest in einem ,Kernterritorium'" ein "Herrschaftsgefüge von gewisser Stabilität" errichtet habe. Anhaltende militärische Bedrohung schließe das nicht zwingend aus (Az.: 2 BvR 260/98 u. 1353/98).
Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl zeigte sich erfreut, "dass die schlichte Formel ,Im Bürgerkrieg keine politische Verfolgung' in dieser Form keinen Bestand mehr haben kann." Auch Flüchtlinge aus anderen Bürgerkriegsländern wie etwa Somalia, die bisher meist kein Asyl bekamen, dürften jetzt Hoffnung schöpfen. Afghanistan gehört zu den Hauptherkunftsländern von Asylbewerbern. 1999 stellten rund 4500 Afghanen einen Asylantrag. Mehr Asylbewerber kamen nur aus Jugoslawien, der Türkei und Irak.