junge Welt, 19.08.2000
»Gölcük, ich verlasse dich nicht«
Ein Jahr nach dem Erdbeben kämpfen die Menschen in der Nordwesttürkei um ein Zurück ins Leben
- Eine Reportage von Darren Klingbeil-Baksi -
In den ersten Tagen nach dem Jahrhunderterdbeben vom 17. August 1999 versprachen türkische Spitzenpolitiker, den Überlebenden schnell und unbürokratisch beim Wiederaufbau ihrer Städte zu helfen. Bis heute ist von Wiederaufbau in der stark zerstörten Hafenstadt Gölcük am Marmarameer fast nichts zu sehen. Vor der Katastrophe lebten in Gölcük 80 000 Menschen. Den Angaben der Behörden zufolge sollen 20 000 Menschen im gesamten Erdbebengebiet gestorben sein. Die Überlebenden von Gölcük hingegen sprechen allein von 20 000 Toten, die das Erdbeben in ihrer Stadt gefordert hat.
Von dem Haus mit der Adresse Gençosmancaddesi No.12 ist nichts als eine 60 Quadratmeter große Schuttfläche übriggeblieben. Aus dem bräunlich-roten Trümmerfeld winden sich verbogene, rostige Eisenstangen empor. Unter den Gesteinsschutt mischen sich zersplitterte Überreste von Möbelstücken, Porzellan und Glas. Der Blick bleibt an Gegenständen hängen, die an die ehemaligen Bewohner des Hauses erinnern: eine kleine gelbe Kindersocke, der kopflose, beigefarbene Torso einer Spielzeugpuppe, e in aufgeweichter Schulheftumschlag, eine zerbrochene, blaue Waschschüssel. Im vierten Stock des Hauses lebte vor einem Jahr noch die fünfköpfige Familie von Aziz Baksi. Sie haben überlebt. Ihre Wohnung war gerade abbezahlt. Das zusammengesparte Geld aus fünfzehn Arbeitsjahren in Hagen, Westfalen, hatten Aziz und seine Frau in den Kauf der Eigentumswohnung gesteckt. Den Kühlschrank, einen Fernseher, ein paar Möbelstücke und einige Familienfotos konnten sie noch unter Lebensgefahr aus dem stark beschädigten Haus retten, bevor Bagger es vor einigen Wochen abrissen.
Aziz Baksi schweigt. Er beobachtet zwei Kinder, die mit bloßen Händen im Schutt nach Brauchbarem suchen. Grau ist der Stoppelbart des 48jährigen Mannes über die vergangenen Monate geworden. Er deutet hinunter zum Marmarameer. »Vor dem Beben konnte man das Meer von hier oben aus nicht mehr sehen«, sagt er leise, »überall standen hohe Häuser. Aber die meisten davon sind jetzt weg.«
Es war kurz nach drei Uhr in der Nacht zum 17. August 1999, als ein Erdbeben mit der Stärke von 7,4 auf der Richterskala den Nordwesten der Türkei heimsuchte. Lange 45 Sekunden bebte die Erde. Die Region um die Millionenstadt Izmit, am Ostufer des Marmarameers gelegen, ist das industrielle, dichtbevölkerte Kernland der Türkei. Etwa hundert Kilometer sind es von hier bis zur Metropole Istanbul.
Zehntausende starben in der betroffenen Region, Hunderttausende wurden in der Schreckensnacht obdachlos. Viele ahnten bereits damals, daß der bankrotte türkische Staat ihnen kaum beim Aufbau neuer Häuser und Existenzen wird helfen können.
Aziz geht mit mir den Hang hinunter ins Stadtzentrum. In einer unbelebten Seitenstraße bleibt er vor einem nur leicht beschädigten Gebäude stehen. Er deutet auf ein über dem Hauseingang hängendes Schild. Der Name DEP-DER auf dem Schild steht für »Verein der Erdbebengeschädigten«. Im Treppenhaus sind Arbeiter dabei, kleinere Risse im Mauerwerk zu kitten. Eine junge Frau begrüßt uns. Inci Bayindir ist Gründungsmitglied und Vorsitzende von DEP- DE R. »Wir wollen, daß man uns Überlebende fragt, wie wir weiterleben wollen, und daß der Staat uns als zivile Organisation ernst nimmt«. Sie erzählt, daß die Auszahlung von Entschädigungsgeldern für zerstörte Häuser vom Staat verschleppt würde, weshalb der Verein eine kostenlose Rechtsberatung eingerichtet habe. Nach der Katastrophe litten die Menschen vor allem unter der hohen Arbeitslosigkeit und der oft immer noch unerträglichen Wohnsituation, erklärt Inci Bayindir. Hinzu kämen massivste gesundheitliche Probleme, wie Psychosen, Depressionen, Verstümmelungen. In den ersten Wochen organisierte man Feldküchen und noch heute, so Bayindir, unterstützten sie täglich 36 bedürftige Familien mit Lebenmitteln. Der Verein stelle Kontakte zu Ärzten und Psychologen her, die die Betroffenen kostenlos behandelten. Bevor wir gehen, überreicht sie eine von DEP-DER erstellte Opferstatistik, und ihre Stimme wird deutlich leiser, als sie von 20 000 Getöteten spricht und weiteren 20000, die bereits weggezogen seien. »Vielleicht kommen einige wieder«, sagt sie lächelnd, als wir uns verabschieden, »wenn wir hier Aufbauarbeit leisten, wenn man von uns hört«.
Die einst engen, stark belebten Gassen des Stadtkerns haben sich durch die eingestürzten Häuserzeilen stellenweise in breite, stille Straßen ohne Leben verwandelt. Wir erreichen den Busbahnhof Gölcüks, und nur an diesem Ort scheint die Katastrophe plötzlich wie vergessen: Quirlig, laut und lebendig geht es hier zu. Die einstöckigen, kleinen Geschäfte und Läden am Bahnhof sind alle stehengeblieben. Es riecht nach Benzin, Zigarettenqualm, Abrißstaub und frischgekochtem, schwarzen Tee. Neben einem Teehaus betreibt Aziz sein Suppen-Schnell- Restaurant. Er wirft einen Blick hinein. An den vier kleinen Tischen sitzen einige Durchreisende und Männer, die am Bahnhof arbeiten. Umgerechnet zwei bis drei Mark kostet eine warme Mahlzeit. »Wir können im Moment davon leben, andere haben gar keine Arbeit«, sagt Aziz trocken.
Wir schlendern weiter, eine Hauptverkehrsstraße hinunter in Richtung Hafen. Hinter einem zweieinhalb Meter hohen Drahtzaun stehen auf der linken Straßenseite unversehrte, vierstöckige Appartementwohnanlagen. In ihnen leben die Familien der in Gölcük stationierten Marinesoldaten. Gegenüber der Militäranlage, ganze zwanzig Meter weiter rechts, auf der anderen Straßenseite, sind fast alle Häuser zerstört und größtenteils bereits abgerissen. Alle diese Häuser seien billig, mit zu wenig Stahl und zum Teil mit Meersand vermischt gebaut worden, erklärt Aziz. »Von den korrupten Bauunternehmern haben sie keinen geschnappt. Die sind alle rechtzeitig abgetaucht«, sagt er. Bei den Militärwohnungen hingegen sei nicht gespart und unter behördlicher Aufsicht gebaut worden. »Allein in dieser Straße sind Hunderte Menschen gestorben«, sagt er. Der kleine Mann wirkt leicht gekrümmt, seine Stimme wird dünner, als er von vielen Freunden und Bekannten erzählt, die in jener Nacht in dieser Straße gestorben seien.
Wir sind am Meer angekommen. Den Stadtteil am Wasser nennt man in Gölcük »Kavakli«, was wörtlich übersetzt »mit Pappel« heißt. Hier begann eine breite Küstenpromenade, an der die Menschen auf grünen Wiesen picknickten, am Wasser entlangspazierten oder in einem der offenen Teegärten saßen. Jetzt ist der Ort zu drei Vierteln von grau-grünem Meerwasser bedeckt. Die Luft riecht modrig und abgestanden nach Tang, Öl und Salzwasser. Das Beben hat den Meeresspiegel sprunghaft um mehrere Meter ansteigen lassen, und das Wasser ist bis heute kaum zurückgegangen. Rückenlehnen von Parkbänken, geknickte Straßenlaternen und viele abgestorbene Pappelbäume ragen aus dem Wasser. Nackt und mit Salz überkrustet zeigen die toten Äste der Bäume in den Himmel. Einige Möwen kreisen über dem Wasser. Man hört sie kreischen, sonst nur Stille. Viele Häuser sind in Kavakli während des Bebens ins Meer gestürzt, ihre schlafenden Bewohner ertrunken. »Man kam nicht an die Toten in den versunkenen Häusern ran. Manchmal tauchen heute noch Leichenteile auf und werden ans Land gespült«, bemerkt mein Begleiter.
Auf dem Weg zurück zur Stadtmitte erreichen wir ein Viertel, in dem die Aufräumarbeiten erst begonnen haben. Eine gelbe Staubglocke hüllt die gesamte Umgebung ein. Am Rande eines fußballfeldgroßen Trümmerplatzes, gleich neben hektisch umherfahrenden Abrißbaggern und Lastwagen, leben Menschen in zusammengenagelten Wellblech- und Holzverschlägen. Eine junge Frau hockt vor einer der Hütten und rubbelt Kleidung im Seifenschaum einer Waschschüssel. Sie schaut kurz auf. Leere Augen, aus einem eingefallenen, grauen Gesicht sehen uns an. Dann widmet sie sich wieder der Wäsche. Der nasse, kalte Winter sei sehr hart für alle in Gölcük gewesen, aber besonders wohl für diese Leute, sagt Aziz und fügt hinzu, die meisten hier seien Kurden- und Romafamilien. »Diese Leute kommen aus der Umgebung nach Gölcük rein«, erklärt Aziz. »Sie leben in Hütten und Zelten, um von der Stadt ein monatliches Obdachlosengeld zu erhalten. Davon leben sie.«
Bald darauf sind wir zurück am Busbahnhof. Wir setzen uns vor Aziz' Restaurant in den Schatten. Er ruft einem vorbeilaufenden Jungen mit silbernem Tablett zu und bestellt bei ihm zwei Gläser Tee. Er sieht mich aus zusammengekniffenen, braunen Augen an und sagt lächelnd: »Aber du siehst ja, wir leben hier doch irgendwie weiter.« Während ich warte, höre ich ihn in der Küche mit dem Koch scherzen. Sie lachen. An einem der Tische vor dem Teehaus sitzen vier Männer bei einem Brettspiel. Sie tun das, was sie immer schon getan haben: Sie rauchen Zigaretten, schlürfen genüßlich ihren Tee und schwatzen über Gott, die Welt und über Fußball. In der Nähe des Bahnhofs hat jemand mit schwarzer Farbe ein Graffiti an eine Steinmauer geschrieben: »17. August, drei Uhr zwei. Gölcük, ich verlasse dich nicht.«