junge Welt, 21.08.2000
Aprikosen gegen Nazi-Aufmarsch
Hamburg: Neonazis durften mit höchstrichterlichem Segen demonstrieren.
jW-Bericht
Mehr als 1 000 Menschen demonstrierten am Sonntag in der Hamburger Innenstadt gegen Fremdenfeindlichkeit und neonazistische Gruppen. Die Teilnehmer forderten auf Transparenten unter anderem »Macht die NPD-Zentrale dicht« und »Flüchtlinge willkommen - Nazis raus«. Auf der Kundgebung zeigten sich mehrere Redner, darunter ein Betriebsrat des Axel-Springer-Verlages und ein Vertreter der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) empört über das dreiste Auftreten der Neonazis und verlangten ein Verbot neofaschistischer Organisationen. Ein Redner der Regenbogen-Fraktion in der Hamburger Bürgerschaft forderte den Hamburger Senat auf, entschiedener gegen die rechte Infrastruktur in der Stadt vorzugehen. Auch nach dem in der letzten Woche erfolgten Verbot des »Hamburger Sturms« gebe es noch etliche offen agierende neofaschistische Gruppen in der Stadt.
Ein Aufgebot von über 2 000 Polizisten und BGS-Beamten aus sechs Bundesländern begleitete die Veranstaltung, um zu verhindern, daß die Demonstranten zu dem Platz einer ebenfalls in der Hamburger Innenstadt stattfindenden Kundgebung von Neonazi-Gruppen gelangen konnten. Der bekannte Hamburger Nazi-Aktivist Christian Worch hatte die Kundgebung mit dem Motto »Bild lügt - enteignet Springer« angemeldet. Nach einem Verbot durch das Hamburger Landgericht hatte das Bundesverfassungsgericht in einer Eilentscheidung am Freitag dem Widerspruch Worchs stattgegeben und die Kundgebung unter Auflagen genehmigt.
Der Versammlungsort vor dem Springer-Haus war bereits am Vormittag von der Polizei mit einem dreifachen Sicherheitskordon abgeriegelt worden. Kurz vor 14 Uhr marschierten 150 Neonazis mit Polizeieskorte auf den Platz. In seiner Rede stellte Worch den Protest gegen den Springer- Verlag in die Tradition der Studentenproteste von 1968 und vereinnahmte den damals angeschossenen Studendenführer Rudi Dutschke als »nationalen Freiheitskämpfer«, gegen den die Bild-Zeitung seinerzeit Mordhetze betrieben hätte.
Augenzeugen berichteten gegenüber jW, daß Polizisten nach Aufforderung durch die Neonazis gemeinsam mit Rechten Pressevertreter aus der inneren Absperrung drängen wollten. Auch als einzelne Nazis versuchten, Kameras auf den Boden zu schlagen, hätte die Polizei nicht eingegriffen. Hamburgs Polizeisprecher Wolfgang Ketels bestäigte gegenüber jW den Vorgang, berief sich aber auf die Pflicht, »die Demonstrationsfreiheit auch der Neonazis zu schützen«. Auch Pressevertreter, die sich generell innerhalb von Absperrungen aufhalten dürften, müßten einen Mindestabstand einhalten.
Am Rande des Platzes versuchten einige hundert Gegendemonstranten mit Trillerpfeifen und Sprechchören, die Nazi-Kundgebung zu stören. Gegen 15 Uhr begann die Polizei, die Demonstranten zurückzudrängen und in kleinen Gruppen einzukesseln. Dabei kam es auch zum sporadischen Einsatz von Knüppeln und Wasserwerfern. Als Begründung nannte der Polizeisprecher unter anderem vereinzelte Würfe mit Pflaumen und Aprikosen. Nach Intervention von Regenbogenen-Abgeordneten wurden die Kessel ohne größere Zwischenfälle wieder aufgelöst. Verletzungen und Festnahmen wurden bis Redaktionsschluß nicht bekannt. Kurz vor 16 Uhr beendeten die Nazis ihre Kundgebung mit dem Absingen der ersten Strophe des Deutschlandliedes und wurden von der Polizei zu einem bereitgestellten S-Bahn- Sonderzug am Bahnhof Stadthausbrücke geleitet.