Tagesspiegel, 21.8.2000
Rechtsextremismus
Dort, wo ein Mensch starb
Dessau, im Juni: Drei Skinheads prügeln einen Mosambikaner zu Tode. In Deutschland löst die Tat eine Debatte über rechte Gewalt aus. Morgen beginnt der Prozess gegen die Angeklagten. Am Tatort, einem schmuddeligen Park, kaufen auch Neonazis Drogen von Afrikanern.
Frank Jansen
Sie geht da jeden Tag hin. Dann steht die Frau vor Blumensträußen, die inzwischen verwelkt sind und von zwei vertrockneten, krummen Fichtenzweigen eingerahmt werden. Blickt auf den grellgrünen Teddybären und die hölzerne Spielzeuglibelle mit den dunkelblauen Flügeln. Und auf das großformatige Schwarzweiß-Portrait des etwas schüchtern wirkenden Mannes mit den dicken Ba cken. Sie schaut auf die brusthohe, quaderartige Stele aus blassrotem Vulkangestein, an der das Foto lehnt. Aber vielleicht sieht die kleine, kräftige Person ganz andere Bilder, an dieser Stelle im Stadtpark. Hier, wo es passiert ist. Angelika Adriano will erklären, was sie bei ihrem täglichen Besuch im Park empfindet. Doch nach dem zweiten oder dritten Satz fängt die 43-jährige, arbeitslose Frau an zu stottern. Ein hilfloser Blick hängt in der Luft. Angelika Adriano kann nicht flüssig erzählen, dass in der Nacht zum 11. Juni gegen 1 Uhr 45, Ehemann Alberto im Stadtpark der anhaltinischen Stadt Dessau von drei Skinheads geschlagen, getreten, entkleidet und ins Gebüsch geschleift worden ist. Dass die Angreifer Parolen riefen wie "du Negerschwein, scher' dich aus dem Land". Dass einer der Rechten mit seinen 14-Loch-Schnürstiefeln ungefähr zehn Mal gegen den Kopf des Fleischers getreten hat.
Alberto Adriano hinterließ drei Kinder. Belamino ist acht Jahre alt, Manuel drei Jahre und Gabriel sieben Monate. Belamino musste nach dem Tod des Vaters in eine Klinik eingewiesen werden, weil seine aggressiven Ausbrüche die Mutter überforderten. Der Stress setzt Angelika Adriano offenbar so stark zu, dass sie die Realität nur noch selektiv wahrnimmt. Selbst die Frage, wie viel Spendengeld inzwischen auf ihrem Konto eingegangen ist, kann sie nicht beantworten. (In der Stadtverwaltung ist von etwa 50 000 Mark die Rede.) Wieder erstarren ihre Augen in Hilflosigkeit.
Morgen beginnt der Prozess, schon zwei Monate nach der Tat. Verantworten müssen sich die beiden 16-jährigen Schulabgänger Frank M. und Christian R. aus dem anhaltinischen Wolfen sowie der 24 Jahre alte Bäckergeselle Enrico H. aus Bad Liebenwerda (Brandenburg). Der Erste Strafsenat des Oberlandesgerichts Naumburg ist extra ins neue, besser gesicherte Justizzentrum Halle ausgewichen. Der Hauptvorwurf: Mord. Begangen aus Fremdenhass. Die Anklage hat Generalbundesanwalt Kay Nehm übernommen, am Tag nach dem Tod des Afrikaners. Nehm begründete sein Eingreifen mit der "beispielhaften Wirkung" solcher Taten, die geeignet seien, die innere Sicherheit der Bundesrepublik zu gefährden.
"Das war Scheiße", sagt ein Mädchen
"Beispielhafte Wirkung" - die rechten Überfälle nach Adrianos Tod haben Nehm vielfach bestätigt. Aber der Begriff "beispielhaft" ist noch anders besetzt. "Dessau" gilt derzeit weniger als Synonym für "Bauhaus-Stadt" denn als Beispiel für den Schrecken rechter Gewalt. Wie Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen. Mit "Dessau" weitete sich die Sommerdebatte über das Ausmaß der Gefahr aus, um dann durch "Düsseldorf" - den ungeklärten Anschlag auf eine Gruppe mehrheitlich jüdischer Einwanderer - ungeahnte Wucht zu erreichen.
Wie wirkt nun "Dessau" auf Dessau? Auf eine Stadt, die nur noch 85 000 Einwohner zählt, weil seit der Wende 15 000 Dessauer zumeist in den Westen gingen? Auf eine Stadt mit einer Arbeitslosenquote von 21 Prozent? Die im Krieg zu 80 Prozent zerstört wurde, weil die Nazis hier die berüchtigten Stukas bauen ließen? Eine Stadt, in der das Giftgas Zyklon B produziert wurde, durch das allein in Auschwitz eine Million Menschen ums Leben kamen? Aber auch auf eine Stadt, in der das berühmte Bauhaus steht - nicht nur ein architektonisches Juwel, sondern ein Stück antitotalitärer Zeitgeschichte in Stein und Glas?
Eine erste, nur scheinbar profane Antwort ist im Stadtpark zu finden. Kein Hakenkreuz verunziert die quaderartige Stele, die ein Dessauer Steinmetz zur Verfügung gestellt hat, niemand hat auf den Blumen herumgetrampelt. Das ist nicht selbstverständlich. Im ostbrandenburgischen Guben ist der Gedenkstein für den von Rechten zu Tode gehetzten Algerier Farid Guendoul bereits fünf Mal geschändet worden. Im Dessauer Stadtpark scheint kaum jemand die Stele wahrzunehmen, aber auch niemand die Erinnerung an Alberto Adriano stören zu wollen.
Zwei Mädchen stehen vor der kleinen Gedenkstätte. "Das war Scheiße", sagt die 14-Jährige mit dem engen roten Shirt. Ihre 13-jährige Freundin mit der Zahnspange starrt auf das Foto von Adriano. "Die Ausländer, die hier Drogen verkaufen, gegen die kann man was haben. Aber die, die hier richtig gearbeitet haben und Familie aufgebaut haben, die soll man in Ruhe lassen." Später gibt die 14-Jährige zu, "ich war mal mit einem afrikanischen Drogenverkäufer zusammen". Die Freundin auch. "Da war echt Stress mit unseren Eltern." Wo haben sie die Dealer kennen gelernt? "Hier im Park." Im Angebot sind Marihuana, Cannabis, Kokain.
Drogenhandel. Afrikaner. Skinheads. Der schmuddelige Stadtpark ist seit Jahren die Freilichtbühne, auf der sich Dessauer Konflikte verdichten. Zu einer Alltagsfarce.
Drei "Y-Häuser" grenzen den Park nach Nordwesten ab. Die 14-geschossigen Plattenbautürme mit dem dreizackigen Grundriss waren wohl mal ein Stück realsozialistischer Avantgarde-Architektur, heute sind sie nur noch grau-braun-schmutzig. In einem der Hochhäuser wohnt Adrianos Familie. Vor dem Eingang unterhalten sich zwei Afrikaner. Deutsche Passanten blicken mürrisch, eine ältere Frau zischt: "Alle verscheuchen!" Plötzlich entsteht Unruhe: Die Afrikaner rennen ins hohe Gebüsch. Fünfzig Meter entfernt sind drei Polizisten aufgetaucht. Sie kommen näher und drehen wieder ab. Die Afrikaner kehren zurück. Was sie zu verbergen haben, ist unklar.
Ein dritter Afrikaner kommt hinzu, ein kleiner, untersetzter Mann mit größerer Narbe auf der linken Wange. "Neonazis haben mich geschlagen, da am Stadtrand. Zwei Tage, nachdem Alberto ins Krankenhaus kam." Satz für Satz presst Veloroso Augustinho seine Verbitterung heraus. Adriano war sein Cousin, "ich wollte nicht nur zu Hause sitzen und traurig sein". Als Augustinho rausging, wurde er selbst überfallen. Zum zweiten Mal. "Im letzten Jahr haben Neonazis eine Flasche in mein Auto geworfen. Ich bin sofort zur Polizei gefahren, mit der zerbrochenen Scheibe. Wissen Sie, was die Polizei gesagt hat? Bevor ich nicht die Namen der Leute bringe, kann man nichts machen."
Jetzt meidet Augustinho die Polizei. Der 37-jährige, arbeitslose Familienvater fühlt sich machtlos. Seit fünf Jahren beobachtet der ehemalige Tagebau-Baggerfahrer, wie die Spannungen rund um die Y-Türme zunehmen. "Das stimmt mit den Drogen. 1995 hat das angefangen. Die Leute, die einen Asylantrag gestellt haben, können nicht arbeiten. Aber die versuchen irgendwann, Geld zu verdienen." Mit dem Drogenhandel habe seit 1995 auch die Feindseligkeit der Deutschen zugenommen. "Dann haben die Leute, die Kinder haben, auf dem Spielplatz das Zeug in der Hand." Augustinho holt Luft. "Aber die Deutschen kaufen auch Drogen. Damit fängt die ganze Scheiße an." Seine Stimme wird leise. "Wieso ist Alberto nackt gefunden worden? Das war nicht nur Ausländerfeindlichkeit. Die Nazis haben Drogen gesucht. Für sich selbst. Die haben gedacht, wenn nachts ein Afrikaner durch den Park geht, muss er Drogen haben."
13 Prozent für die DVU
Hundert Meter entfernt steht die Polizeistreife. In der Nähe erschallt der Skinhead-Schlachtruf "Oi!". Zwei Kahlköpfe hasten vorbei, springen in ein Auto, rasen weg. Die Polizisten lächeln. Ja, auch Rechtsradikale deckten sich bei den Afrikanern mit Drogen ein. "Erst kaufen, dann prügeln": Der Polizeiobermeister mit dem makaberen Humor heißt Jürgen Gewinner, "aber der Name passt im Moment überhaupt nicht". Der stämmige Gewinner hat ein Verfahren am Hals, wegen Körperverletzung im Amt. Er soll im Juli einen mutmaßlichen Drogenhändler auf der Wache geschlagen haben. In der Erregung nach Adrianos Tod erregte diese Nachricht erhöhte Aufmerksamkeit - obwohl sie falsch war. Ein Gerichtsmediziner fand bei dem Afrikaner keine Spuren einer Misshandlung. "Wissen Sie", sagt der Polizeiobermeister und kommt etwas näher, "das mit der Ausländerfeindlichkeit ist doch von den Medien aufgebauscht."
So was würde Holger Platz nie sagen. Der smarte, groß gewachsene Sozialdemokrat hat sich schon vor zwei Jahren mit Rechtsextremisten angelegt. Als die DVU 1998 im Landtagswahlkampf die Meldedaten von Jungwählern anforderte, sagte der Stellvertreter des Oberbürgermeisters: nein. Die DVU zog bis zum Bundesverfassungsgericht - und verlor. Keine andere Kommune in Sachsen-Anhalt hatte so viel Mut wie Dessau. "Wir waren mächtig stolz", sagt Platz. Trotzdem holte die DVU in Dessau rund 13 Prozent der Stimmen, wie im Lande insgesamt. Platz erkannte: Man muss beharrlich bleiben. Also sitzt er am Runden Tisch gegen Fremdenfeindlichkeit, geht zum lokalen Bündnis gegen Rechtsextremismus und ist ein inoffizielles Bündnis mit der linken Szene eingegangen. Das örtliche "Alternative Jugendzentrum" mache "verdammt gute antifaschistische Arbeit", sagt der Bürgermeister. Die Linken hätten auch verhindert, dass sich in Dessau rechte Organisationen breit machen konnten. Was die Polizei übrigens ähnlich sieht. Die Linken sowieso.
Dann ist Dessau mit dem Tod von Alberto Adriano doch zum Synonym für rechte Gewalt geworden. Obwohl sich 5000 Dessauer mit prominenten Politikern zu einem Trauermarsch formierten. Und obwohl die Schläger nicht aus Dessau kamen. Auf dieses Detail hat Oberbürgermeister Hans-Georg Otto, auch SPD, in einem Interview verwiesen - und wurde von Parteien und Medien als unsensibel gescholten. Nun weigert sich Otto, mit der Presse über Rassismus in Dessau zu reden. Der Eklat ist Platz unangenehm. Anstelle eines Kommentars übt er Selbstkritik: "Unserem Engagement gegen Rechts fehlt die Breitenwirkung." Die 13 Prozent Dessauer DVU-Wähler "sind ja nicht einfach weg". Und die Konflikte, vor allem um den Drogenhandel im Stadtpark, schwelen weiter. Doch gebe es jetzt eine Initiative von Afrikanern, die auf ihre Landsleute in der Grünanlage einwirken wollen, sagt Platz, "Stichwort: soziale Kontrolle". Auch durch die Reihen der Polizei sei "ein Ruck" gegangen. Jedes Revier habe einen Ausländerbeauftragten benannt. "Nicht nur pro forma", betont Platz. Und es drängt ihn, über Detailfragen hinaus eine Perspektive aufzuzeigen: "Die Stadt hat mit dem Bauhaus das Potenzial für einen internationalen Anspruch. Aber der muss nun auch eingelöst werden."
Da ist allerdings noch viel zu tun. Der in den zwanziger Jahren entstandene, damals revolutionär wirkende und von den Nazis als "undeutsch" abgelehnte Quaderkomplex, ist marode. Immer noch, zehn Jahre nach der Wiedervereinigung. Der bröckelnde Putz wirkt wie ein Fingerzeig: Dessau hat das Bauhaus vergessen. Zahlreiche Plattenbauten, Straßen und historische Amtsbauten wurden saniert - das Bauhaus so gut wie nicht.
"Es fehlen Visionen", sagt Omar Akbar. "Vielleicht fehlen sogar die Fragen dazu." Das sagt ein Mann, der für Visionen, Aufbruch, Querdenken steht wie sonst kaum einer in Dessau. Omar Akbar ist seit 1998 Direktor der Stiftung Bauhaus. Der gebürtige Afghane mit dem wallenden, schwarzgrauen Haar bringt Unruhe in die Stadt. Er hat ein Kolleg gegründet, in dem junge Experten aus vielen Ländern in Dessau hin- und herverwandeln - zumindest am Computer. Und der 52-jährige Mann hat nach dem Überfall auf Alberto Adriano die Stadtverwaltung mit Appellen genervt, die Dessauer Hochschule, die Studenten: "Tut was!"
Vielleicht ist Akbars Unrast das erstaunliche Ausmaß des Trauermarsches zu verdanken. 5000 Teilnehmer, so viel wie nirgendwo sonst in Ostdeutschland, wenn Rechte gemordet haben. Trotzdem will sich Akbar noch stärker einmischen, damit die Stadt nicht mehr so "leer" wirkt. "Wir müssen Orte zur Disposition stellen", sagt er und meint konkret den Stadtpark, diesen Brennpunkt Dessauer Widersprüche und Feindseligkeiten.
Wenn morgen der Prozess gegen die drei Skinheads beginnt, wird Angelika Adriano wahrscheinlich dabei sein. Mit ihrer Hilflosigkeit, ihrem Schmerz. Und mit dem Gefühl, für die Angeklagten "nur Hass" zu empfinden. Außerdem kommt die Angst dazu, "dass die Kumpels von den Skinheads mich besuchen, wenn das Urteil da ist". Das Namensschild von ihrer Wohnungstür hat Angelika Adriano schon entfernt.