Sindelfinger, Böblinger Zeitung, 21.8.2000
Fragwürdiges Kirchenasyl
VON ANDREAS SCHARF
Die Rollen sind schnell vergeben. Hier die Guten, die Engagierten, die Couragierten. Dort die Bösen, die verbohrten, unnachsichtigen Politiker und Beamten. Hier Moral und Menschlichkeit, dort Willkür. Es gibt nur Schwarz und Weiß, wenn über Kirchenasyl gestritten wird. Die Rechtslage ist eindeutig: Es gibt keinen rechtsfreien Raum, auch nicht in der Kirche. Es gibt niemanden, der sich über Recht und Gesetz stellen kann, nicht mal die Kirche. Das ist das Wesen des Rechtsstaates, der sich in seiner Verfassung auf christliche Werte beruft. Jeder muss darauf vertrauen dürfen, dass Recht und Gesetz nicht nach Belieben gebeugt werden.
Kirchenasyl ist ein altes, religiöses Recht zur Rettung Unschuldiger vor Verfolgung oder Lynchjustiz. Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Kirchenasyl heute heißt: Pfarreien, gleich ob evangelische oder katholische, nehmen Menschen auf, um sie dem staatlichen Zugriff zu entziehen. Es handelt sich durchweg um Asylsuchende, denen von deutschen Gerichten die Anerkennung versagt wird; es sind Ausländer, deren Aufenthaltsberechtigung in Deutschland aufgebraucht ist. Immerhin: Es sind Menschen, die geltend machen, dass ihnen Verfolgung, Folter, ja der Tod drohen, wenn sie in ihre Heimat abgeschoben werden. Wahrlich, kein Grund kann schwerer wiegen. Jüngst machte ein Tübinger Pfarrer sein Kirchenasyl für eine kurdische Familie öffentlich, das er seit Anfang August gewährt. Etwa elf Fälle von Kirchenasyl gibt es in Baden-Württemberg, schätzen die Kirchen. Wie viele es genau sind, weiß man nicht.
Es gibt keinen Anspruch auf Kirchenasyl, keinen Rechtstitel. Wie also umgehen mit dem offensichtlichen Rechtsbruch? Die Kirchen erlauben ihren Gliederungen die Gewährung von Kirchenasyl, ja ermuntern sie sogar. Der Staat schaut lieber nicht hin, er duldet Kirchenasyl, das gemeinhin gar nicht in der Kirche selbst, sondern im Pfarr- oder Gemeindehaus gewährt wird. (Aus Tübingen wird gar berichtet, der dortige Pfarrer wolle seinen Schützlingen einen Kirchenasyl-Ausweis an die Hand geben, damit sie sich frei bewegen können und im Falle einer Polizeikontrolle bitte wieder in ihr Asyl zurückkehren dürfen.) Nirgendwo sonst in der Gesellschaft lässt sich der Staat so ungestraft herausfordern, ja diffamieren. Und vorführen, denn jetzt wird offen auf die Landtagswahl im nächsten Jahr verwiesen. Bis dahin werde ohnehin nichts passieren.
Kirchlicherseits wird Kirchenasyl als ¸¸Schutzgewährung'' umschrieben; wird als ¸¸Anregung'' interpretiert, auf dass der Staat über die Richtigkeit seiner Gesetze nachdenken möge; wird als allerletztes Mittel beschrieben, um ¸¸das versagte Recht vom Staat einzufordern''; wird als ¸¸Beitrag zum Erhalt des Rechtsfriedens'' dargestellt. Mühsame Rechtfertigungen, noch dazu im Wissen, dass vor jeder Abschiebung Recht gesprochen wurde. Diese Art von Asyl kann nur bestehen, weil der Staat sich gegenüber den Kirchen eine Beißhemmung auferlegt. Kein Fall ist bekannt, in dem die Polizei kirchliche Räume gestürmt hätte. Pfarreien wiegen sich in dieser Sicherheit. Jede Warnung vor einem rechtsfreien Raum ist bloße Zeigefingerpolitik - ohne jede Wirkung. Fakt ist: Es gibt den rechtsfreien Raum.
Bis auf weiteres will niemand Pfarrern die Ehrlichkeit ihrer Motive absprechen. Auch wenn dieselben umgekehrt die Rechtsstaatlichkeit des jeweiligen Abschiebeverfahrens in Frage stellen. Wenn aber, wie es beim Diakonischen Werk Württemberg heißt, jeden Monat 15 Pfarrer um Rat in Sachen Kirchenasyl nachfragen, dann ist das nicht das ¸¸allerletzte Mittel'', dann droht Missbrauch. Kirchenasyl darf nicht staatliches Handeln verhindern, so wenig wie staatliches Handeln blind oder schematisch sein darf, wenn es um die Not des Einzelnen geht. Wer Kirchenasyl gewährt, ergreift Partei. Das ist die bequemere Hälfte der Verantwortung. Rechtsfrieden gibt es aber nur ohne rechtsfreie Räume. Eine Aufgabe für die Polizei? Wer konsequent ist, muss Ja dazu sagen, statt nur damit zu drohen. Kirchenasyl darf kein Freibrief sein. An erster Stelle sind die Kirchen gefordert, den Rechtsfrieden zu wahren.