Bremer Nachrichten, 23.8.2000
Türkischer Präsident geht aufs Ganze
Sezer beugt sich Militärs nicht/Droht die Staatskrise?
Von unserer Korrespondentin Susanne Güsten
Istanbul. Wenn in der politischen Diskussion in der Türkei der Begriff "28. Februar" fällt, dann spitzen alle die Ohren. Am 28. Februar 1997 präsentierten die Militärs im Nationalen Sicherheitsrat dem damaligen islamistischen Ministerpräsident Necmettin Erbakan ein Maßnahmenpaket gegen den Fundamentalismus, das er gefälligst umsetzen solle - der Beginn der Entmachtung Erbakans, der wenige Monate später zurücktreten musste. Seither dient "28. Februar" als Chiffre für die Entschlossenheit der türkischen Generäle, im Kampf gegen den politischen Islam auch gegen gewählte Volksvertreter vorzugehen. Nun ist der "28. Februar" wieder in aller Munde; diesmal steht sogar der höchste Repräsentant des Staates im Mittelpunkt des Geschehens - Präsident Ahmet Necdet Sezer. Zu den Forderungen der Militärs 1997 gehörte die Entfernung all jener Beamter aus dem Staatsdienst, die der Sympathie für Fundamentalisten oder kurdische Separatisten verdächtigt werden. Nun versucht Ministerpräsident Bülent Ecevit, dies auf dem Wege eines Dekrets umzusetzen. Kritiker weisen darauf hin, dass die entlassenen Staatsdiener nach dem Dekret keine wirksame Möglichkeit hätten, sich vor Gericht gegen die Kündigung zu wehren. Auch Sezer hat Bedenken und verweigerte am Montag zum zweiten Mal die Unterschrift unter den Erlass - eine "Staatskrise" drohe, warnte Ecevit bereits letzte Woche.
Wenn an diesem Mittwoch der Sicherheitsrat unter dem Vorsitz Sezers zu seiner allmonatlichen Sitzung zusammenkommt, dürfte der Streit um das Dekret eines der wichtigsten Themen sein. Die große Frage lautet, ob Sezer trotz des "28. Februars" bei seinem Standpunkt bleibt, oder ob er einknickt.
Doch selbst wenn er das Dekret unterschreibt, hat sich Sezer in den ersten drei Monaten seiner Wahl schon recht viele Feinde gemacht. In Ankara wird darüber spekuliert, ob die Dekrets-Debatte als Anlass dienen soll, den früheren Verfassungsrichter wegen Widerborstigkeit zum Rücktritt zu zwingen. Auf die inhaltlichen Bedenken des Präsidenten gegen das Dekret geht die Regierung kaum ein: Der Widerspruch, dass sich die Türkei als EU-Beitrittskandidatin rechtsstaatliche Reformen vorgenommen hat, jetzt aber plötzlich rechtsstaatliche Maßstäbe ignorieren will, kümmert im Kabinett offenbar niemanden.