Frankfurter Rundschau, 23.8.2000
Unbequem demokratisch
Türkische Regierung setzt Präsident Sezer unter Druck
Von Gerd Höhler (Athen)
Für sieben Jahre wurde der türkische Verfassungsgerichtspräsident Ahmet Necdet Sezer im Mai zum Staatsoberhaupt seines Landes gewählt. Sezer gilt als unbestechlicher Demokrat. Deshalb wird der Druck der Regierung auf ihn immer stärker.
Zum zweiten Mal verweigerte der Präsdident jetzt jenem umstrittenen Radikalenerlass, mit dem Ministerpräsident Bülent Ecevit tausende politisch unzuverlässige Staatsdiener feuern möchte, seine Unterschrift. Das Dekret soll vor allem die fristlose Entlassung von Beamten und Staatsbediensteten ermöglichen, die sich islamisch-fundamentalistischer Umtriebe verdächtig machen. In der Praxis wäre es damit möglich, Staatsdiener willkürlich, ohne Angabe von Gründen und ohne Einspruchsmöglichkeit zu feuern. Dazu, meint Sezer, dürfe sich die Regierung nicht selbst durch ein Dekret ermächtigen sondern müsse die Zustimmung des Parlaments zu einem Gesetz einholen.
Die Regierung hatte massiv versucht, Sezer unter Druck zu setzen. Er wolle sich gar nicht vorstellen, was passieren könne, wenn der Präsident nicht unterschreibe, drohte Ecevit. Sezer habe "kein Recht", den Erlass zurückzuweisen, wiederholte der Premier am Montag nach dessen neuerlicher Weigerung, der Präsident verstoße gegen die Verfassung. Sezer wiederum ließ mitteilen, der Erlass sei "offensichtlich verfassungswidrig". Einen so offen ausgetragenen Machtkampf zwischen Regierungs- und Staatschef hat es in der Türkei seit dem Ende der Militärdiktatur 1983 nicht mehr gegeben. Zwischen Ecevit und Sezer sind alle Brücken abgebrochen.
Nicht zufällig spekulieren jetzt manche türkische Zeitungen über einen angeblich bevorstehenden Rücktritt des Präsidenten oder gar ein Amtsenthebungsverfahren. Das ganze sei eine Falle, glaubt die Zeitung Sabah: Ecevit habe den Streit über das Dekret bewusst herbeigeführt, um Sezer aus dem Amt zu drängen.
Denn der entpuppt sich als zunehmend unbequem für die Regierung. Der Verfassungsrechtler hatte nicht nur gleich nach seinem Amtsantritt die mangelnde Verwurzelung der Demokratie in seinem Land beklagt. Er legte sich auch mit dem Obersten Erziehungsrat (YÖK) an, als er dessen Vorschlagsliste für die Ernennung von Universitätsrektoren zurückwies. Statt der Kandidaten des YÖK ernannte Sezer in einigen Fällen Hochschullehrer, die laut Presse als liberal und nicht im gewünschten Maß staatstragend gelten. Bereits diese Personalentscheidungen Sezers, so schreibt Turkish Daily News, hätten Missfallen bei den Militärs ausgelöst.
Wie die Stimmung im Generalstab nun ist, davon wird sich der Staatspräsident an diesem Mittwoch ein Bild machen können, wenn er bei der turnusmäßigen Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates dem Generalstabschef und den Oberkommandierenden der vier Waffengattungen gegenüber sitzt. Der Radikalenerlass trägt die Handschrift der Militärs. Seine Ablehnung betrachten sie als Affront, den Kampf gegen den politischen Islam als ihre wichtigste Aufgabe. Seit drei Jahren fordern die Militärs von den Politikern ein Instrument, mit dem religiöse Fanatiker aus dem Staatsdienst entfernt werden können. Jetzt muss Sezer fürchten, dass er zurückgetreten werden soll.