Financial Times Deutschland, 24.8.2000
Chatami verteidigt seinen Reformkurs
Von Guy Dinmore, Teheran
Nach etlichen Provokationen der Konservativen hat Irans Präsident vor dem Missbrauch der Religion gewarnt.
M. Chatami
Irans Präsident Mohammed Chatami hat in einem fast dreistündigen Fernsehinterview seinen demokratischen Reformkurs verteidigt. Er wirft den Konservativen, die die Bewegung seit Monaten mit Verhaftungen und Schließungen von Zeitungen provozieren, vor, die Religion zu missbrauchen. Man könne die Menschen nicht zur Religiösität zwingen. Der Versuch, Demokratie und islamische Werte zu versöhnen, sei richtig. Gleichzeitig gestand er seine begrenzte Macht ein. Nicht er, sondern der oberste geistige Führer Chomenei habe das letzte Wort.
Der exiliranischen Volksmuddjahedin - eine Art iranische PKK - wirft Chatami vor, nicht liberal genug zu sein und somit das unterdrückerische System zu stützen. Sie protestieren deshalb gegen seinen bevorstehenden Besuch bei den Vereinten Nationen.
Kritik an der Rechtsprechung
In einem seiner seltenen Interviews, auf das die Öffentlichkeit seit langem gewartet hat, gab Chatami eine Antwort auf die Provokationen der Konservativen: Mehr als 20 Reform-nahe Zeitungen wurden geschlossen, mindestens neun Journalisten und Verleger in Haft genommen und das frisch gewählte und von Reformern dominierte iranische Parlament massiv behindert.
Chatami gestand offen die Grenzen ein, die seinem Amt gesetzt sind. Das letzte Wort hat in der islamischen Republik nach wie vor nicht der Präsident, sondern der oberste geistige Führer Ajatollah Ali Chamenei und der Wächterrat. Dennoch kritisierte Chatami die konservative Rechtsprechung wegen der Knebelung der liberalen Presse. Chamenei hatte zudem das neue Parlament vor zwei Wochen daran gehindert, ein restriktives Mediengesetz zurückzunehmen, das noch vom alten Parlament verabschiedet worden war. Die Pressefreiheit zu garantieren ist eines der Hauptanliegen der Reformer; die liberalen Medien sind Sprachrohr der Bewegung.
In den Jahren nach dem Sturz des Schahs 1979 bemühte sich der Iran aktiv darum, die islamische Revolution zu internationalisieren. Nun sagt Chatami, sein Land versuche eine Kombination von Demokratie und Spiritualität zu entwickeln, die Vorbild sein könnte. "Wenn die Menschen aber finden, dass ihre Würde im Namen der Religion mit Füßen getreten wird, erreichen wir das Gegenteil", warnte Chatami.
Chatami will im Mai erneut kandidieren
Chatami schien unter erheblichem Druck zu stehen, ist aber offenbar entschlossen, nicht aufzugeben. Er werde nicht zurücktreten, sagte er. Chatami widersprach gleichzeitig Berichten, er habe sich bereits entschieden, nach Ablauf seiner vierjährigen Amtszeit im Mai kommenden Jahres erneut zu kandidieren. Die ersten Reaktionen in den wenigen verbliebenen liberalen Zeitungen waren für den Präsidenten nicht ermutigend. Er habe sich in dem Interview uneindeutig und unbefriedigend geäußert. Die englischsprachige "Iran News" fragte in einer Editorial-Überschrift: "Hat Chatami die Presse verraten?" Weiter hieß es: "Sehr zum Bedauern vieler Menschen schien es, als stünden wir vor der Erkenntnis, dass die ungebrochene Unterstützung Chatamis durch die Presse die Begeisterung des Präsidenten für die Presse in vieler Hinsicht übersteigt."
Bei den Iranern wächst die Sorge, ihre enorme Beteiligung an den Präsidentschaftswahlen 1997 und den Parlamentswahlen im Februar könnte vergeblich gewesen sein. Die konservativen Politiker hatten damals schwere Niederlagen erlitten. Noch vor wenigen Monaten waren Kommentatoren und Politiker sehr daran interessiert, Interviews zu geben. Heute zögern sie, da rund ein Dutzend Verleger und politische Aktivisten vor Gericht stehen. Ein Journalist, der anonym bleiben will, sagte, die Konservativen tolerierten Chatami nur, weil seine Außenpolitik erfolgreich sei und es ihm gelinge, ausländische Geldgeber anzulocken.
Chatami hat in dem Interview sehr viel Zeit darauf verwandt, seine wirtschaftlichen Reformpläne zu erläutern; eine Schwäche, die vor den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr von den Konservativen ausgenutzt werden könnte. Die Kombination von hoher Arbeitslosigkeit und Enttäuschung über die Reformbemühungen könnte zu sozialen Unruhen führen, sagen Analysten. Aber mit den höchsten Ölpreisen seit einem Jahrzehnt könnte es in Iran auch zu einem "Mini-Boom" kommen, der Chatami nützt.