junge Welt, 24.08.2000
Flucht aus Kirchenasyl
Flüchtlingsrat: Gemeinden wollten kurdische Familie »ans Messer fern«
Der Wiesbadener Flüchtlingsrat ist dieser Tage um eine bittere Erkenntnis reicher: Alle Appelle, der von Abschiebung in die Türkei bedrohten Familie Akyüz weiterhin Unterstützung zu gewähren, hatten am Ende bei den verantwortlichen Behörden und beim »ökumenischen Bündnis Kirchenasyl« keinen Erfolg. »Auch die Kirchengemeinden haben die Familie zuletzt allein gelassen«, so das Fazit des Flüchtlingsrates. »Statt Frau Akyüz und ihren Kindern Schutz zu gewähren, wurde zuletzt eine >begleitete Rückkehr< ins Spiel gebracht, wissend, daß eine wie auch immer aussehende >begleitete Abschiebung< auf Dauer keinerlei Schutz der Familie vor Verfolgung und Folter gewährleisten kann«.
Anfang der Woche ist Frau Akyüz, nach dramatischer Zuspitzung ihrer Situation, mit ihren Kindern heimlich aus dem Kirchenasyl in Mainz verschwunden und lebt nun irgendwo untergetaucht. Zuvor hatte es für die Familie deutliche Signale gegeben, daß der vor Monaten von verschiedenen Kirchengemeinden zugesagte Schutz vor Abschiebung nicht länger Bestand haben sollte. Vor wenigen Tagen erklärten zuständige Gremien der zwei Wiesbadener Gemeinden St. Elisabeth und der evangelischen Kreuzkirchengemeinde, die der Familie noch im Frühjahr zusammen mit der Evangelischen Studentengemeinde (ESG) in Mainz die notwendige Unterstützung zugesagt hatten, sie seien nicht bereit, nach einem dreimonatigen Kirchenasyl in der ESG in Mainz, die Familie nach Wiesbaden in ihre Obhut zu holen. Sie seien also nicht bereit, der Familie in der Stadt, in der sie zuvor lange Jahre gelebt hatte, Kirchenasyl zu gewähren.
Am vergangenen Wochenende spitzte sich die Lage weiter zu. Ohne Familie Akyüz in Kenntnis zu setzen, erlaubte der Pfarrer der ESG zwei Polizisten, die Familie in der Kirche in Augenschein zu nehmen. »Die standen plötzlich neben den Matratzen von Frau Akyüz und ihren Kindern«, berichtete Uta Ries vom Flüchtlingsrat, »eine Unverschämtheit - aber sicher auch als Signal gedacht«. Daraufhin sei bei der Familie Panik hochgekommen. Unvorstellbar, ausgerechnet von den Menschen, die Schutz versprochen hatten, an die deutschen Behörden und damit an ihre Verfolger in der Türkei, so der Flüchtlingsrat in einer Pressemitteilung, ausgeliefert zu werden.
Der »Fall Akyüz« hatte in den letzten Monaten bundesweit für Aufsehen gesorgt. Obwohl Angehörige der insgesamt elfköpfigen Familie in ihrem Herkunftsland Türkei nachweislich schwerste Menschenrechtsverletzungen, konkret Mißhandlungen und Folter am eigenen Leib erfahren mußten, war der Familienvater am 17. Februar diesen Jahres zum zweiten Mal aus Deutschland abgeschoben worden. Das Gutachten einer Psychologin des Psychosozialen Zentrums für Folteropfer der evangelischen Kirche in Frankfurt am Main stellte bei Angehörigen der Familie schwerste Traumatisierungen fest. Dennoch entschied die Wiesbadener Ausländerbehörde, nach dem Vater müsse auch der Rest der Familie in die Türkei zurück. Der Vater hält sich unterdessen seit Monaten dort versteckt, was von einem Reporterteam des »Stern« mit Bildern und Recherchen vor Ort einer breiten Öffentlichkeit in Deutschland zugänglich gemacht wurde.
Statt dem Familienvater das vom Anwalt der Familie und Unterstützergruppen geforderte Visum zur sofortigen Wiedereinreise auszustellen, nahm der Druck auf die Familienangehörigen in Deutschland weiter zu. Am 30. März lehnte der Petitionsausschuß des Hessischen Landtages das Gesuch, der Familie aus politischen und humanitären Gründen ein Bleiberecht zu gewähren, ab. Kurze Zeit später lehnte das Wiesbadener Verwaltungsgericht einen vorläufigen Abschiebeschutz angesichts eines noch ausstehenden Folgeverfahrens ebenfalls ab.
In den »Mühlen der Justiz« gab es für die Familie keinen Schutz vor drohender Abschiebung und deren verheerenden Folgen. Die Hoffnung, Kirchengemeinden könnten die Familie wenigsten so lange vor einer Abschiebung in die Türkei bewahren, bis alle rechtlichen Möglichkeiten zur Gewährung von Asyl ausgeschöpft sind - was bisher noch nicht der Fall ist - haben sich zerschlagen.
Bei einer Kundgebung vor der Wiesbadener Ausländerbehörde hatten sich vor kurzem Vertreter der Gemeinden, die ihre Unterstützung heute verweigern, noch anders geäußert: Es müsse doch möglich sein, daß körperlich und seelisch Geschädigte bei uns wieder gesund werden und nicht ins Unglück zurückgestoßen werden. Die Familie sei nicht nur von Verfolgungen bedroht, auch ihre Lebensgrundlage in der Türkei sei zerstört. »Ihr Dorf wurde evakuiert, ihr Eigentum, ihre Existenzgrundlage ist zerstört«. Die Familie sei deshalb nun hier »zu Hause«.
Für den Wiesbadener Flüchtlingsrat ist das Gerede vom notwendigen Schutz von Ausländern und Flüchtlingen - von einem »menschlichen Miteinander« und ähnlichen Formulierungen, die gegenwärtig Hochkonjunktur haben - angesichts solcher Ereignisse »bloße Phrasendrescherei«.
Thomas Klein