Aus einem ruhigen Tag kann jeden Moment brüllendes Chaos werden
Der 31-jährige Alexander Sell ist seit vier Jahren fest angestellter Sozialarbeiter im Flughafensozialdienst / Die Angst ist immer dabei
Von Frauke Haß
Der Abschreckungseffekt des 1996 für verfassungsgemäß erklärten Flughafenasylverfahrens zeigt Wirkung: Die Zahl der Antragsteller ist von 4590 (1995) auf 1305 (1999) gesunken. Während 1995 letztlich 223 Asylanträge abgelehnt wurden, waren es vier Jahre später 436. Diese Menschen werden zum Teil monatelang vom Flughafensozialdienst betreut, dessen Träger Caritas und Evangelischer Regionalverband sind. Nach dem Selbstmord einer Algerierin im Mai ist die Arbeitsbelastung noch größer geworden: Die Angst läuft immer mit. Eine Spätschicht im Transit.
Könnte ein ruhiger Tag werden. Nur 39 Leute da, einschließlich sechs Kindern. Verdammt wenig für das Haus, in dem in den allerschlimmsten Zeiten schon 120 Menschen eingepfercht waren. Wenig. Und doch 39 zu viel. Sagen manche. Sagen die, die das so genannte Flughafenverfahren am liebsten ganz abgeschafft sähen, wie Pro Asyl.
Alexander Sell, Sozialarbeiter beim Flughafensozialdienst, kommentiert das offiziell nicht. Politik ist nicht sein Job, sagt er. "Ich bin dazu da, für die Menschen hier den Aufenthalt so gut es geht zu organisieren", dafür, sie zu beraten und ihnen das Gefühl (wieder) zu geben, dass sie Menschen sind. 39 ist eine gute Zahl. In einem Haus, wo 70 Menschen in Gemeinschaftsräumen mit Stockbetten untergebracht werden können, bedeutet das fast halbe Belegung, und das heißt: mehr Luft, mehr Platz, mehr Privatsphäre. Herr E. sei sogar besonders guter Laune, erfährt Sell bei der Übergabe um 14 Uhr, und das, obwohl er am Freitag zurück nach Nigeria fährt. Freiwillig. Nach Wochen im Gebäude C 182 habe er wohl beschlossen, alles sei besser, als noch länger hier zu bleiben Die Sozialarbeiter, Zivildienstleistenden und Ehrenamtlichen grinsen. Wenn einer gerne geht, heißt das für sie eine Krisensituation weniger. Hier sind auch schon Menschen schreiend rausgetragen worden. Da hat das Team dann alle Hände voll zu tun, die aufgebrachten Zurückbleibenden zu beruhigen.
Die Stimmung im Team ist entspannt. Auch dem Iraner, der seit vier Monaten da ist, geht es heute besser. "Hängt bei ihm immer noch das Schild an der Tür ,Police only'?", fragt einer, und alle kichern. Sieht tatsächlich nach einem ruhigen Tag aus. Schnell die Finger unterm Stuhl gekreuzt, denn das kann sich von einer Minute auf die andere ändern. Im Gebäude C 182 weiß man nie. Das ist das Schlimmste an diesem Job: Nie zu wissen, was einen hinter der nächsten Ecke erwartet. Seit dem Selbstmord einer Algerierin, die sich im Mai nach acht Monaten Aufenthalt im Flughafentransit in der Dusche erhängte, hat sich dieses Gefühl der Angst noch verstärkt unter den Beschäftigten, die rund um die Uhr im Einsatz sind. Dass derzeit zwei Kollegen dauerhaft krankgeschrieben sind, macht es nicht leichter.
Nein, er habe keine schlechten Träume, versichert Sell, der mit seinen 31 Jahren schon ein alter Hase im Flughafensozialdienst ist. 1994 kam er nach seiner Lehre als Speditionskaufmann zum ersten Mal für ein Praktikum während des Sozialpädagogikstudiums her und ist hängen geblieben, seit 1996 als Festangestellter. Unter den Kollegen gilt der ruhige Mann mit dem zurückweichenden Haaransatz als Kenner der juristischen Verwicklungen des Flughafenverfahrens. Und er schläft gut, sagt er, obwohl auch ihn die Angst nie verlässt. Die Angst vor dem Unvorhersehbaren, davor, dass aus einem ruhigen Tag wie heute das brüllende Chaos werden kann, wenn einer durchdreht.
Denn wie soll man sich darauf vorbereiten, dass einer der Flüchtlinge plötzlich anfängt zu schreien und nicht mehr aufhört und schreit und schreit, so laut und so verzweifelt, dass ihn drei Mitarbeiter zwei, drei Stunden lang festhalten müssen? Wie wappnet man sich dagegen, dass einer der hier monatelang wartenden Menschen mit dem Kopf gegen die Wand rennt und nochmal und nochmal und nochmal... - als könne er sie so zum Einsturz bringen? Dass einer in blinder Verzweiflung gegen die Fensterscheibe springt und aus einem vergleichsweise friedlichen Abend mit Gesprächen und Fernsehen im kantinengrauen Aufenthaltsraum eine Situation macht, die einem ausbrechenden Vulkan gleichkommt?
Hier warten keine Menschen mit stabiler Psyche, hier warten Männer, Frauen und Kinder, die sich in ihren Heimatländern von Haft, Verfolgung oder gar vom Tode bedroht sehen. Menschen, die ihre Familie verloren haben, im Bürgerkrieg, durch diktatorische Staatsgewalt, gekillt von Todesschwadronen. Ein Funke reicht da schon, das explosive Gemisch der wochenlang zusammengepferchten Menschen zum Entzünden zu bringen. Ein Funke. Wenn die einzigen Unterbrechungen im stupiden Alltag essen, rauchen, fernsehen und der Ausgang ist, dann kann das ein kaputter Zigarettenautomat sein, schlechtes Essen, ein kaputter Fernseher oder die ewig verstopften Toiletten. "Man macht seine Schicht und ist froh, wenn sie vorbei ist, ohne dass was passierte." Mehr als seine Dreiviertelstelle traut Sell sich deshalb auch nicht zu.
Das schlimmste Erlebnis in sechs Jahren Flughafensozialdienst? Sell denkt keine Sekunde nach. Nahezu hilflos musste er mit ansehen, wie ein Algerier plötzlich schreiend auf einen Tisch sprang und begann, sich mit einer Rasierklinge Oberkörper und Arme zu zerschneiden. Quälend langsam. Sell stand ein paar Meter entfernt im Raum. Entsetzt, wie gelähmt. Schritt für Schritt tastete er sich mit zwei anderen Kollegen an den Mann heran, während jemand den Rettungswagen alarmierte. "Ich hatte die ganze Zeit vor Augen, wie der Mann sich gleich die Halsschlagader aufschneidet. Ich hab das Blut schon überall gesehen." Die drei Kollegen erreichten den Mann im selben Augenblick, in dem die Sanitäter hereingestürmt kamen. "Da ist er zusammengebrochen."
Natürlich sind große Teile der Arbeit ganz und gar undramatisch. Viele Stunden des Tages studiert Sell Akten, telefoniert mit Anwälten, übersetzt juristische Schriftsätze, Bescheide des Verwaltungsgerichts. Ein Neuzugang war heute zu bearbeiten. Sell legt eine Akte an, sorgt dafür, dass der Mann zu essen und zu trinken und sein Bett zugewiesen bekommt. Die ausführliche Erstberatung über das Verfahren muss bis morgen warten.
Sprachkenntnis ist Voraussetzung für den sozialen Dienst im Flughafen, das Team eine multikulturelle Truppe. Sell selbst spricht Englisch und Französisch. Bei dem Flüchtling aus Sri Lanka, der gegen Abend mit dem Ablehnungsbescheid des Verwaltungsgerichts an die Tür des "Social Service" klopft, ist freilich auch er aufgeschmissen. Der Mann schüttelt nur den Kopf, als Sell ihn fragt "Do you speak English?!", "Francais?" "Just Tamil?" Ja, da nickt er. Der Mann ist der einzige Flüchtling aus Sri Lanka derzeit und hat niemanden zum Reden. Sell versucht sein Glück und ruft einen der ehrenamtlichen Helfer zu Hause an. N., der Tamil spricht, ist tatsächlich daheim und redet ein paar Minuten mit dem Mann, beruhigt ihn, erklärt ihm den Gegenstand des Schreibens und vertröstet ihn auf den nächsten Morgen, die erste Gelegenheit für die Frühschicht, mit seinem Anwalt zu reden.
Momente wie dieser sind Alltag im bescheiden eingerichteten "Social Service Office" mit den ewig verschlossenen Fenstern und der massiv vergitterten roten Frischluftklappe. Selten hat Sell die Ruhe, eine Akte von vorn bis hinten durchzulesen. Irgendwer will immer irgendwas.
Viel Zeit für die Betreuung bleibt da nicht. Zusammen mit Sell in der Schicht sind eine ehrenamtliche Helferin, die sich um die Kleiderkammer kümmert, ein Zivildienstleistender, eine Praktikantin, die heute viel Bürokram erledigt, und eine Kinderbetreuerin. Erst am späten Nachmittag hat Sell Luft, in den Aufenthaltsraum im ersten Stock zu gehen. Sofort umringen ihn drei Kongolesen. Vor ein paar Tagen waren noch zehn Landsleute hier. Alle 13 Asylanträge sind längst als "offensichtlich unbegründet" abgelehnt. Die zehn Landsleute sind "zurückgewiesen", wie die Abschiebung von noch nicht eingereisten Asylbewerbern im Amtsdeutsch heißt. Offenbar nicht zurück nach Kongo, sondern nach Südafrika, wo sie wie K. gehört hat, im Gefängnis sitzen. "Wenn ich schon sterben muss", sagt K., "dann lieber zu Hause, in Kinshasa." Bittend schaut er Sell an. Als könne der etwas tun. Sell sagt ihm, dass er immer noch hoffen könne, einzureisen. "Jeder Tag hier zählt für Sie."
Das Gespräch am Tisch, an dem Wasser aus Tetrapaks gereicht wird, dreht sich, wie so oft, ums Essen. K. springt auf und holt eine der vom Mittagessen übrig gebliebenen Aluschalen, in der ein graubrauner Teighaufen liegt. "Kaiserschmarrn", interpretiert Sell. Heute sind schon wieder 20 vegetarische Gerichte geliefert worden, obwohl die Kollegen die Cateringfirma seit Tagen beharrlich darauf aufmerksam machen, dass nur noch fünf benötigt werden.
K. kommt wieder auf seinen Fall zu sprechen. Stellt die alte Frage: "Warum lassen die mich nicht einreisen? Wissen die Deutschen nicht, dass in Kongo Krieg ist? Ich dachte, Deutschland ist ein demokratisches Land." Sell erzählt ihm von der hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland und dass die Leute Angst hätten, dass die Flüchtlinge ihnen die Arbeit wegnehmen könnten. "Aber das würde ich doch nicht tun", sagt K. und schüttelt den Kopf.
Halb acht. Sell hat Hunger. Zeit fürs Abendessen in der Flughafenkantine. Ein bizarrer Szenenwechsel - vom stumpfen Grau des ewigen Transits ins glänzende Chrom von Deutschland, Terminal 2.
Zurück im Büro ist es Zeit, die Übergabe für den Nachtdienst vorzubereiten, im ein Meter breiten Spezialkalender Erledigtes abzuhaken und die Aufgaben für den Frühdienst zu notieren. Die afghanische Familie darf morgen einreisen. Der Anwalt des Tamilen muss angerufen werden... Da taucht K. auf. Er habe gehört, es sei möglich, nach der Ablehnung des Asylantrags den Innenminister um die Einreise zu bitten. Sei das nicht an der Zeit? Sell schüttelt den Kopf: "Fragen Sie Ihren Anwalt, aber ich denke, dazu ist es noch zu früh: Sie sind nicht einmal zwei Monate hier." Hektisch steckt ein Beamter des Bundesgrenzschutzes (BGS) den Kopf in die Tür, deutet auf K. "Ist der Mann Asylbewerber?" Sell nickt und der BGS-Mann ist wieder weg. Der Sozialarbeiter erklärt, dass bei den dreimal am Tag stattfindenden Zählungen des BGS offensichtlich einer fehlte. "Da hat er hier nachgeschaut."
"Sie haben mich nicht nach meinem schönsten Erlebnis gefragt", sagt Sell und erzählt vom acht Jahre alten Ibrahim aus Eritrea, dessen Foto Sells Schreibtisch schmückt. Monatelang war er da und jedermanns Liebling. Auch die BGS-Beamten hatten ihn ins Herz geschlossen, ließen ihn ihre Uniformmützen aufsetzen. Nachdem er eingereist war, kam er mit seiner Mutter auf der Durchreise am Flughafen vorbei. "Wir haben in der Kantine gefeiert. Das war schön, ihn mal auf anderem Terrain zu erleben." In Deutschland.
Halb zehn. Der Nachtdienst kommt, und ein ruhiger Tag geht zu Ende. In 25 Minuten ist Alexander Sell daheim in Mainz und wird wohl - wie immer - gut schlafen.
Nachtrag: Wenige Tage später wurde K. "zurückgewiesen" und sitzt wie Sell gehört hat, jetzt im Gefängnis in Kinshasa.