Basler Zeitung (CH), 26.08.2000
Der «kleine Mehmet» soll schweigen
Die Journalistin Nadire Mater hat Interviews mit türkischen Soldaten in einem Buch veröffentlicht. Diese Woche stand sie wegen Beleidigung der Armee vor Gericht. Das Urteil wird Ende September erwartet.
Istanbul. Am Eingang des Sitzungssaales der zweiten Grossen Strafkammer des Istanbuler Stadtteiles Beyoglu hängt ein Zettel mit den zu verhandelnden Fällen des Tages. Eine Spalte verweist jeweils auf die Art der Straftat. Mehrfach ist es Mord, einmal Raub, der Rest hat den Eintrag «Drogen». Seltsamerweise fehlt der Eintrag für den Prozess, wegen dem etwa 50 türkische und ausländische Journalisten gekommen sind. Er müsste lauten: «Beleidigung der Armee durch Verbreitung der Ansichten ihrer Soldaten.»
Angeklagt sind die 51-jährige Journalistin Nadire Mater und ihr Verleger Semih Sökmen. Nadire Mater hat Interviews mit 42 Wehrpflichtigen geführt, die im hauptsächlich von Kurden bewohnten Südosten des Landes im Einsatz gegen die PKK waren. In Anspielung auf den Namen «kleiner Mehmet», den man in der Türkei gerne den eigenen Soldaten gibt, hat Mater die Zusammenstellung dieser Interviews «Mehmets Buch» genannt.
Anklage wittert westliche Intrige
«Mehmets Buch» erlebte kurz hintereinander vier Auflagen, ehe es beschlagnahmt und gegen Mater und Sökmen vor gut einem Jahr ein Verfahren eingeleitet wurde. Sie sollen mit dem Buch die Armee beleidigt und verächtlich gemacht haben - zumindest mit der 3. und 4. Auflage. Warum sich die Staatsanwaltschaft nach der Beschwerde eines Offiziers gerade auf diese beiden Auflagen bezog, gehört zu den Dingen in diesem Verfahren, die weder die Angeklagten noch die Prozessbeobachter so ganz begreifen. Die Aussagen, die die Anklage in dem Buch kritisiert, stammen ausnahmslos nicht von Nadire Mater selbst, sondern von den von ihr befragten Soldaten. Viele von ihnen nehmen kein Blatt vor dem Mund, wenn sie sich über Schläge von Vorgesetzten beschweren, oder den Umgang des Militärs mit der Zivilbevölkerung kritisieren. Einige Soldaten kurdischer Abstammung fühlen sich zwischen den Fronten. Ein anderer Soldat mag die Kurden gar nicht und hat Angst davor, die kurdische Bevölkerung könne sich so rasch vermehren, dass ihnen eines Tages das ganze Land gehören würde. Ein Soldat, den seine Probleme auch nach dem Militärdienst nicht loslassen, resümiert: «Ich habe schlechte Erinnerungen an die Militärzeit. Ich habe immer gedacht: Was bist Du doch für ein schlechter Mensch.» Der Staatsanwalt hat auf das Buch mit einer Anklageschrift reagiert, die politisch weit ausholt. Da ist sowohl vom Ende des Osmanischen Reiches die Rede als auch von dem von der Türkei vehement bestrittenen Vorwurf, die Türkei hätte im 1. Weltkrieg einen Völkermord an den Armeniern begangen. Als letztes Stück einer Kette von westlichen Intrigen gegen die Türkei taucht dann «Mehmets Buch» auf. Mal unterstellt, eine solche Intrige bestünde wirklich, so reicht sie jedenfalls bis in die höchsten Kreise, denn selbst die US-Aussenministerin Madeleine Albright hat sich für das Buch und Nadire Mater eingesetzt.
«Kritik ist Verrat»
Nadire Mater fasst die Argumentation des Staatsanwaltes so zusammen: «Kritik kann nur aus dem Westen kommen, und Kritik ist Verrat.» Ihr sei es jedoch einfach um die Menschen gegangen, die sonst anonym als «Helden», «Märtyrer» und «Gazi» (Ehrentitel für verstümmelte Kriegshelden) bezeichnet würden. Wie sie schon im Vorwort ihres Buches geschrieben habe, sei es ihr nur um die Wiedergabe der wirklichen Geschichten der Soldaten gegangen und nicht darum, ein Buch über den Konflikt mit der PKK zu schreiben. Es mag an vielem liegen, an der schwülen Hitze oder an dem Gesagten. Der Staatsanwalt, in schwarzer Robe mit rotem Kragen, fühlt sich jedenfalls nicht wohl. Oft verzieht er das Gesicht und macht sich mit umständlicher Bewegung Notizen. Die Angeklagte steht braungebrannt in einem ärmellosen Kleid vor ihm und liest ohne einen Hauch von Zerknirschung ihre Verteidigungsrede vor. Am Ende vergisst sie auch nicht zu beantragen, dass das Verbot von «Mehmets Buch» wieder aufgehoben wird. Das Urteil soll am 28. September verkündet werden. Jan Keetman