Die Welt, 28.08.2000
Rüstungsstreit der Grünen verschärft sich
Beer warnt Fischer vor Ende der Glaubwürdigkeit - Streit auch wegen Export von Plutoniumfabrik nach Russland
Berlin - Der Widerstand der Grünen gegen die Lieferung einer Munitionsanlage durch eine hessische Firma an die Türkei wird stärker. Die grüne Verteidigungspolitikerin Angelika Beer warnte Außerminister Joschka Fischer vor einem "Ende der Glaubwürdigkeit" der Grünen. In einem offenen Brief verlangte sie von Fischer ein "aktives, couragiertes Handeln". In der Türkei werde nicht nur der Verteidigungsfall der Nato geübt, "sondern der Krieg im Innern gegen Teile der Zivilbevölkerung geführt".
Fischer hatte die Ausfuhr der Munitionsanlage mit dem Hinweis auf einen Kompromiss in der Regierung verteidigt und im Übrigen weitere Angaben mit Hinweis auf den geheim tagenden Bundessicherheitsrat verweigert. Wie jedoch aus Regierungskreisen zu erfahren war, setzten Kanzler Gerhard Schröder, Verteidigungsminister Rudolf Scharping und Wirtschaftsminister Werner Müller gegen den Widerstand von Fischer und Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul im Bundessicherheitsrat die Lieferung der Munitionsanlage durch. Frau Beer riet Fischer zu einer öffentlichen Debatte: "Wir sind uns selbst und den Verfolgten verpflichtet, das Schweigen zu brechen. Die Regierung hatte den Beschluss des Bundessicherheitsrates mit dem Hinweis auf eine positive Vorentscheidung aus Zeiten der alten Koalition verteidigt.
Grünen-Fraktionschefin Kerstin Müller will den Export in der rot-grünen Koalitionsrunde zur Sprache bringen. Angesichts der Menschenrechtslage in der Türkei sei die Lieferung einer Munitionsfabrik nicht weniger problematisch, als es die Lieferung von Panzern gewesen wäre. In der türkischen Presse war bereits von einer "Patronenkrise" in Berlin die Rede.
Im Gegensatz zu den Grünen sprach sich der SPD-Abgeordnete Hans-Ulrich Klose dafür aus, Rüstungsexporte an Nato-Länder grundsätzlich zu erlauben. Klose, der auch Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages ist, erklärte, wenn Deutschland die Munitionsanlage nicht liefere, tue es ein anderes Land, denn die Türkei müsse ihre Bündnisverpflichtungen erfüllen. Der CDU/CSU-Militärexperte Paul Breuer warf der Koalition vor, durch den Zickzackkurs bei Rüstungsexporten das Ansehen Deutschlands zu beschädigen. Dass Munition gegen Kurden eingesetzt werden könne, sei in Berlin offenbar nicht aufgefallen, sagte Breuer. Dagegen könne der von der Türkei gewünschte Kampfpanzer Leopard II in Kurdistan überhaupt nicht eingesetzt werden. Die Koalition lehnt die Lieferung von Leos bisher ab.
Neuer Streit könnte in der Koalition wegen eines anderen Exportprojekts drohen: Der Siemens-Konzern will seine Hanauer Plutoniumfabrik nach Russland exportieren. Dort soll damit waffenfähiges Plutonium in Mischoxidbrennelemente für Kernkraftwerke umgewandelt werden. Siemens bestätigte, dass ein entsprechender Antrag gestellt worden sei. hl