Neue Zürischer Zeitung, 29.08.2000

Öl gegen Menschenrechte - das Fallbeispiel Irak

Ende der Isolation oder neuer Streit um Waffeninspektionen?

Zehn Jahre nach dem irakischen Überfall auf Kuwait präsentiert sich ein Scherbenhaufen. Während die Aufrechterhaltung der Uno-Sanktionen nur noch von den USA verteidigt wird, zeichnet sich ein Ende der diplomatischen Isolation des irakischen Regimes ab. Gleichzeitig steht eine neue Uno-Kommission zur Überprüfung der Massenvernichtungswaffen im Irak bereit. Die von Saddams Regierung begangenen Kriegsverbrechen sind beinahe vergessen.
Wok. Der für Kriegsverbrechen zuständige amerikanische Botschafter David Scheffer hat zu Beginn des Monats in Washington eine international wenig beachtete, doch umso überraschendere Erklärung abgegeben. Aus Anlass des vor zehn Jahren erfolgten Überfalls des Iraks auf Kuwait wiederholte Scheffer den Wunsch der amerikanischen Regierung, ein Sondertribunal für den Irak zu bilden, um gegen den irakischen Präsidenten Saddam Hussein und weitere Regierungsverantwortliche Klage wegen Kriegsverbrechen erheben zu können. Scheffer berief sich in seinem Appell auf eine Fülle von belastenden Dokumenten, die von den flüchtenden Irakern in Kuwait zurückgelassen worden waren. Dieses im Internet unter www.iraqfoundation.org teilweise einsehbare Material sei ein unwiderlegbarer Beweis für irakische Kriegsverbrechen. Aufgeführt sind Befehle an die irakische Armee während der Besetzung in Kuwait. Angeordnet werden unter anderm willkürliche Exekutionen, die Plünderung von Privatbesitz und Geiselnahmen.

Mit Sierra Leone nicht zu vergleichen
Angesichts des vorhandenen Beweismaterials sei ein Sondertribunal, wie im Falle des ehemaligen Jugoslawien und Rwandas, gerechtfertigt, sagte Scheffer. Hinzuzufügen wäre noch, dass einige Tage nach diesen Äusserungen der Uno- Sicherheitsrat die Regierung in Freetown ersucht hat, einen Sondergerichtshof zur Strafverfolgung von Kriegsverbrechen in Sierra Leone zu bilden. Es stellt sich also die Frage, warum im Falle des Iraks nicht analog vorgegangen werden kann. Mit der Materie vertraute Beobachter weisen darauf hin, dass es sich dabei um zwei Fälle in jeweils völlig unterschiedlichen politischen Umfeldern handle. In Sierra Leone lasse sich, so die Argumentation, durchaus ein Exempel statuieren, das im besten Falle im afrikanischen Kontext abschreckende Wirkung auf potenzielle Kriegsverbrecher ausüben könnte. Im Falle des Iraks jedoch lägen die Dinge anders, da der in dieser Frage tief gespaltene Sicherheitsrat kaum einem Sondertribunal zustimmen würde. Angesichts des enormen Ölreichtums des Iraks und von dessen strategischer Position am Golf spielten menschenrechtliche Aspekte in der internationalen Beurteilung von Saddam Husseins Regime immer nur eine zweitrangige Rolle.
Diese aus moralischer Sicht ernüchternde Einschätzung wird bei einem Rückblick in die achtziger Jahre bestätigt. Joost Hiltermann, der für die amerikanische Menschenrechtsorganisation Hu man Rights Watch tätige Irak-Spezialist, wies in einem Artikel der deutschen Nahost-Zeitschrift «Inamo» darauf hin, dass irakische Kriegsverbrechen während Jahren von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen waren. Hiltermann untersuchte die sogenannte Anfal-Kampagne des Iraks. Es handelte sich dabei um vom irakischen Regime verübte Massaker an der kurdischen Zivilbevölkerung im Nordirak und um Zwangsumsiedlungen, die Zehntausende von Opfern gefordert hatten. In der Stadt Halabja setzte Saddams Regime im März 1988 nachweisbar gegen die eigene Bevölkerung Giftgas ein. Da sich diese Verbrechen während des ersten Golfkriegs zwischen Iran und dem Irak ereigneten - in einer Zeit, da Khomeinys radikales Islamisten-Regime für den Westen ein Feindbild par excellence verkörperte -, blieben die Untaten weitgehend unbemerkt. Erst nachdem verschiedene Uno-Missionen den Nach weis hatten erbringen können, dass der Irak auch gegen iranische Truppen C-Waffen eingesetzt hatte, rang sich der Uno-Sicherheitsrat zu Resolutionen durch.

Erschütternde Beweise des Grauens
Die ganze Dimension des Grauens wurde erst nach dem zweiten Golfkrieg bekannt, als sich die Kurden 1991 nach dem irakischen Rückzug aus Kuwait gegen das Baath-Regime erhoben hatten. Mit Hilfe der Golfkriegsalliierten entstand im Nordirak für sie die noch heute bestehende, faktisch autonome Schutzzone. Ausländischen Re portern war es erst dann möglich, die schrecklichen Folgen der Anfal-Kampagne ermessen zu können. In den verlassenen Folterkammern der verschiedenen irakischen Sicherheitskräfte fanden sich zuhauf Beweisstücke und kistenweise Material, die das Unwesen von Saddams Schergen belegten. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen verfassten damals in akribischer Kleinarbeit darüber Berichte, deren Inhalt ein Niveau an Grausamkeit und menschlicher Perversion wie dergibt, das im Nahen und Mittleren Osten einzigartig dasteht. Die aufrüttelnden Zeugnisse gerieten aber leider aus zwei Gründen rasch in Vergessenheit. Zum einen waren es die betroffenen Kurden des Nordiraks, die wegen kleinlicher Zänkereien um Zolleinkünfte und Mannesstolz sich in sinnlose Kleinkriege verwickelten und damit das Wohlwollen des Westens verloren und Opfer ihrer selbst geworden sind. Und zweitens verhiess die von den USA geprägte Politik der Eindämmung Saddam Husseins mittels Uno- Sanktionen einen baldigen Zusammenbruch des Regimes in Bagdad.
Aller Voraussicht nach wird Saddam aber noch an der Macht sein, wenn zu Beginn des kommenden Jahres bereits der dritte Präsident seit dem letzten Golfkrieg in Washington im Amt ist. Gleichzeitig haben sich in Europa und in Russland auf höchster politischer Ebene Allianzen formiert, die offen ein Ende der Uno-Sanktionen fordern. Das Embargo habe sich als sinnlos erwiesen, lautet die Argumentation, denn bestraft würden damit die Falschen. Das Leiden der unschuldigen irakischen Zivilbevölkerung könne nicht länger toleriert werden. Der französische Aussenminister Védrine gab Anfang August an lässlich des zehnten Jahrestags der irakischen Invasion in Kuwait öffentlich zu Protokoll, dass die Sanktionen den sozialen Zusammenhalt des Iraks gefährdeten. Dies bedeute eine Gefahr für die regionale Stabilität. Übergangen wurde hingegen von Védrine und andern die Tatsache, dass das irakische Regime aus dem Kuwait-Debakel auch nicht die geringste Lehre gezogen hat. Und es darf vermutet werden, dass ein militärisch wiedererstarkter Saddam mit denselben Argumenten wie 1990 die Kontrolle über die umstrittenen Ölquellen im irakisch-kuwaitischen Grenzgebiet erneut mit Gewalt zu erringen versucht.
Unterstützung erhielt der Chor der Sanktionsgegner unlängst auch innerhalb der Vereinten Nationen. Der belgische Jurist Bossuyt legte in Genf dem Uno-Unterausschuss für Menschenrechte einen Befund vor, wonach die Sanktionen während der letzten zehn Jahre indirekt den Tod von einer halben bis zu anderthalb Millionen Iraker verursacht hatten. Internationales Aufsehen hatten zuvor bereits die Rücktritte von zwei Leitern der humanitären Hilfsprogramme der Uno im Irak ausgelöst. Selbst einer der einstigen Todfeinde des irakischen Regimes, der publizitätsbewusste ehemalige amerikanische Uno-Waffen inspektor Scott Ritter, hat die Fronten gewechselt. Er hatte August 1998 seinen Uno-Auftrag unter lautem Protest niedergelegt und den Vorwurf erhoben, die Waffeninspektionen seien eine Alibiübung, da dem irakischen Regime zu viele Schlupflöcher offen gelassen würden. Derzeit hält sich Ritter wieder im Irak auf, diesmal allerdings im Auftrag eines irakischen Geschäftsmannes, um einen Film zu drehen, der auch unter anderem die schrecklichen Folgen der Sanktionen zeigen soll. Die irakischen Finten im Umgang mit den Uno- Waffeninspektoren scheinen vergessen zu sein; es ist das Embargo und dessen Folgen, womit der Irak während der letzten Monate in die Schlagzeilen geriet. Wird Bagdads Strategie aufgehen?

Neuer Anlauf für die Waffeninspektoren?
Mit der Verabschiedung der Uno-Resolution 1284 hatte der Uno-Sicherheitsrat im vergangenen Dezember eine Neuauflage der Waffeninspektionen beschlossen. Die United Nations Monitoring, Verification and Inspection Commission (Unmovic), ein Nachfolgegremium der ge scheiterten Sonderkommission zur Abrüstung im Irak (Unscom), hat den Auftrag, innerhalb von 120 Tagen, die irakische Kooperation und Fortschritte in der Abrüstung zu untersuchen. Bei positivem Befund kann der Sicherheitsrat die Aufhebung des Embargos für jeweils drei Monate anordnen. Bagdad hatte bereits im Dezember die Einreise von Abrüstungsexperten kategorisch zurückgewiesen. Im März hatte der Uno-Sicherheitsrat das Arbeitsprogramm der Unmovic gebilligt. Die Abrüstungsexperten aus neunzehn Ländern werden von der Uno bezahlt und unterstehen nicht mehr, wie jene der Unscom, ihren nationalen Regierungen. Dem in der Vergangenheit von Bagdad erhobenen Spionagevorwurf soll damit vorgebeugt werden. Diese Regelung und die Ernennung des ehemaligen schwedischen Aussenministers und langjährigen Leiters der Internationalen Atomenergieagentur, Blix, zum Chef der Unmovic stellen einen Kompromiss im Sicherheitsrat dar, mit welchem der Irak zum Einlenken bewegt werden sollte. Jüngste Bericht aus Deutschland und den USA sprechen von intensiver irakischer Aufrüstung.
In der Zwischenzeit wurden laut einem Bericht in der «New York Times» 44 Inspektoren ausgewählt und auf ihre Aufgabe vorbereitet. Vorgesehen ist, dass Blix am 1. September dem Sicherheitsrat die Einsatzbereitschaft mitteilen wird. Jüngste Verlautbarungen aus Bagdad lassen aber vermuten, dass der Irak an seiner Verweigerungshaltung festhalten und eine Kooperation mit der Unmovic ablehnen wird. Ungenannte Quellen im amerikanischen Aussenministerium halten in diesem Fall eine «Oktober-Überraschung» für möglich, nämliche eine erneute militärische Intervention, um Saddams Widerstand zu brechen. Diplomaten am Uno-Hauptsitz erachten diese Option wegen des Wahlkampfs in den USA allerdings für wenig wahrscheinlich. Fest steht einzig, dass Clintons Politik dem Irak gegenüber alles andere als ein überzeugender Leistungsausweis ist. Am Ende seiner Amtszeit noch einmal Härte zu markieren, ist für den abtretenden Präsidenten möglicherweise eine prüfenswerte Option. Doch was wollte Clinton im Irak eigentlich erreichen?
Laut Angaben des Pentagons geben die USA derzeit jährlich allein für ihre Überwachungsflüge im Irak eine Milliarde Dollar aus. Hinzu kommen die Kosten für die rund 24 000 permanent in der Golfregion stationierten Truppen. Zwar ergab sich für die amerikanische Armee damit nun schon seit Jahren der Vorteil, ihre Einsatzbereitschaft unter kriegsähnlichen Bedingungen testen zu können. Doch in der Meinung von Experten übersteigen die Kosten den strategischen Nutzen. Periodische Bombardierungen irakischer Fliegerabwehrstellungen sind seit der Operation Wüstenfuchs im Dezember 1998 gang und gäbe. Die militärischen Konsequenzen solcher Nadelstiche sind gering. Auf politischer Ebene hingegen hat es das irakische Regime verstanden, seine Isolation zu lockern. Vor drei Wochen brach Venezuelas Präsident Chávez das Tabu von Staatsbesuchen in Bagdad, der indonesische Präsident Wahid kündete eine Visite an, und zahlreiche europäische Diplomaten sind auf Druck von Wirtschaftskreisen in ihren Ländern nach Bagdad zurückgekehrt. Sie alle werden nicht müde, auf die durch die Uno-Sanktionen entstandenen Leiden der irakischen Zivilbevölkerung hinzuweisen. Dass sich im Umgang mit den Menschenrechten in ihrem Gastland nichts, aber auch gar nichts verbessert hat, wird angesichts der zu erwartenden fetten Aufträge verschwiegen.

Taktik oder inkonsistentes Vorgehen?
Können sich einzig die USA noch rühmen, Saddam die Stirne zu bieten? Washingtons Be mühungen um ein Sondertribunal gegen irakische Kriegsverbrecher seien nicht ernst zu nehmen, behauptet der Irak-Experte von Human Rights Watch, Hiltermann. Ein Zusammenbruch des irakischen Regimes sei für die USA keine wünschenswerte Option; Stabilität am ölreichen Golf sei oberste Maxime. Wenn sich die Mittel fänden, Saddam aus dem Rampenlicht zu entfernen, könnte sich Washington mit weniger stigmatisierten Figuren des Baath-Regimes abfinden. Ziel sei nicht ein Sturz, sondern ein Palast-Coup in Bagdad. Diese Analyse lässt sich insofern bestätigen, als sämtliche Versuche Washingtons, die irakische Opposition zu einer Gegenkraft aufzubauen, bisher kläglich gescheitert sind. Dies liegt zwar auch an der Unfähigkeit und Führungsschwäche der wichtigsten Oppositionskraft, des Irakischen Nationalkongresses. Doch es lässt sich nicht verbergen, dass von den 1998 vom Kongress gebilligten 97 Millionen Dollar bisher erst sehr wenig den irakischen Oppositionskräften wirklich zur Verfügung gestellt wurde. Washingtons Unterstützung bewaffneter Rebellionen in Lateinamerika ist noch in frischer Erinnerung. Sind diese Erfahrungen vergessen? Oder liegt der Unterschied nur darin, dass die damaligen Feinde sozialistisch waren und über keinen Tropfen Öl verfügten?
, 29.08.2000