Beispiel Schweiz: Übersetzer am Krankenbett
Erst von Frau zu Frau gewinnt Ayshe Vertrauen
Professionelle Dolmetscherdienste sind in Schweizer Kliniken selbstverständlich.
Sie verbessern nicht nur die Kommunikation, sondern auch die Bilanzen.
Von Felix Ruhl, Basel
Ayshe soll sich eine "dickere Haut'' zulegen, damit sie von ihren Alltagssorgen
nicht immer so "runtergezogen'' wird, rät die Psychotherapeutin. Ayshe
(Name geändert) versteht den Ausdruck nicht. Aber zwischen der 22-jährigen
Kurdin und ihrer Therapeutin, der Basler Psychologin Ruth Müllejans, vermittelt
eine Dolmetscherin, die auch die Übertragung bildhafter Ausdrücke
in beide Richtungen beherrscht. Die Schilderungen der Patientin teilt Eylem
Atalay in der Ich-Form mit, um sie möglichst authentisch wiederzugeben.
Für Ayshe, die vor ihrem gewalttätigen Vater geflohen ist, entfällt
damit die Angst, in der fremden Schweiz missverstanden zu werden. Anfangs habe
sie sich schwer getan, sich gleich zwei fremden Personen anzuvertrauen, sagt
sie, aber jetzt sei sie froh darüber.
Das Therapiegespräch in der Basler Psychiatrischen Universitätspoliklinik
ist beispielhaft für die Behandlung ausländischer Patienten in der
Schweiz. Schon seit 1987 bietet das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz
medizinisch geschulte Dolmetscher an. Die Zeiten, als die türkische Putzfrau
noch beratend zur Seite stand, wenn der Patient sein psychosomatisch bedingtes
Unwohlsein damit zu begründen suchte, sein Bauch tue weh, sind längst
vorbei. Die Übersetzerdienste des Hilfswerks sind zu einer festen Institution
geworden. Solche Dienste hat jüngst auch die deutsche Ausländerbeauftragte
Marielouise Beck beim Gesundheitstag in Berlin für Deutschland gefordert.
Bei der Behandlung ausländischer Patienten kommt es nicht nur zu sprachlich,
sondern auch immer wieder zu kulturell bedingten Kommunikationsstörungen.
Ruth Müllejans nennt Beispiele: Da habe es den Fall gegeben, dass eine
türkische Patientin gesagt habe: "Ich habe den Kopf gegessen.'' Der
Therapeut habe gleich an eine schwer wiegende Psychose gedacht und die Frau
gefragt, wessen Kopf sie denn gegessen habe. Dabei handelte es sich um ein sprachliches
Bild, den Ausdruck von Verzweiflung. Eine professionelle Dolmetscherin kann
grobe Missverständnisse vermeiden. Eylem Atalay weiß etwa, was es
bedeutet, wenn eine türkische Frau berichtet, ein Mann habe sie "in
die Berge mitgenommen''. Das ist die Umschreibung einer Vergewaltigung.
Wichtig sei es auch, dass die Übersetzerin eine Außenstehende sei,
kein Familienmitglied, sagt Eylem Atalay. Beinahe ausgeschlossen sei es etwa,
dass ein traditionell erzogener türkischer Familienvater seiner Tochter
Probleme aus seinem Intimbereich oder Ehestreitigkeiten anvertraue.
Beim Hilfswerk achtet man deshalb darauf, dass die Übersetzer über
das richtige Maß an Distanz, aber gleichzeitig über exakte Kenntnisse
der kulturellen Hintergründe verfügen. "Die Dolmetscher müssen
mindestens fünf Jahre in der Schweiz gelebt haben und beide Kulturen kennen'',
sagt Projektleiter Olaf Petersen. Die Dolmeterscherdienste verfügen über
12 feste und 38 freie Mitarbeiter. Die Übersetzer decken 21 Sprachen und
Dialekte ab, darunter Tamilisch, Persisch oder Pastou, die Amtssprache Afghanistans.
Wie wichtig die Übersetzerin als Vertrauensperson sein kann, zeigt sich
bei Ayshe. Die Kurdin hat bereits einen Selbstmordversuch hinter sich. Vor ihrem
trinkenden und schlagenden Vater ist sie geflohen - ein mutiger und unter Kurden
ganz ungewöhnlicher Schritt, bestätigt Eylem Atalay. Jetzt lebt Ayshe
allein, fühlt sich einsam. Allein zwischen zwei Kulturen.
In der Therapie erzählt Ayshe von ihrer Unsicherheit, von den ständigen
Kontrollanrufen ihrer Mutter und der Angst vor Menschen außerhalb ihrer
Familie. Eylem Atalay ist etwa so alt wie Ayshe, ihr kann sie sich anvertrauen.
Der Augenkontakt verläuft während der Sitzung fast ausschließlich
zwischen den beiden jungen Frauen.
In Basel mit einem Ausländeranteil von 26 Prozent sind die Übersetzerdienste
ein unverzichtbarer Bestandteil der medizinischen Versorgung. Im Industrie-
und Arbeiterviertel Kleinbasel, eingerahmt von den Hochhäusern der Chemie-
und Pharmariesen Novartis und Roche, sind 35 Prozent der Einwohner aus dem Ausland
zugezogen. In manchen Quartieren Kleinbasels beträgt der Ausländeranteil
50 Prozent. Viele beherrschen die deutsche Sprache gerade so, dass sie sich
am Arbeitsplatz verständigen können. In Kleinbasel befindet sich auch
die Abteilung der Psychiatrischen Universitätspoliklinik, in der Ruth Müllejans
arbeitet. Bis vor kurzem war gleich daneben der Drogenstrich angesiedelt. 40
Prozent der Patienten sind ausländischer Herkunft. Ein knappes Drittel
spricht keine der drei Schweizer Landessprachen. In der Klinik hat man daher
schon in den achtziger Jahren einen Leitfaden zur Schaffung gemeindenaher psychiatrischer
Versorgung erstellt.
Ähnliche Einrichtungen gibt es in Deutschland kaum. Fehldiagnosen oder
umständliche Arztgespräche geben ständig Anlass zu Ärger.
Auch in den Statistiken der Krankenkassen macht sich das bemerkbar. Nach einer
Studie des Gesundheitsministeriums Nordrhein-Westfalen gehen ausländische
Frauen über 40, also vorwiegend Frauen aus der ersten Einwanderergeneration,
deutlich häufiger zum Arzt als deutsche Frauen im gleichen Alter - wegen
Sprachproblemen, nicht etwa, weil sie das deutsche Gratissystem ausnutzen wollten.
Missverständnisse führen zu Mehrfachbehandlungen und zu häufigem
Arztwechsel. Fühlt sich der ausländische Patient nicht verstanden,
geht er vielleicht gar nicht mehr zum Arzt. Chronische Erkrankungen können
die Folge sein.
Der Ruf nach professioneller Übersetzung im medizinischen Bereich wird
in Deutschland zwar immer wieder laut, stößt jedoch auf das Gegenargument
des Sparzwangs. Die Übersetzerdienste in der Schweiz werden von der Schweizerischen
Interessengemeinschaft für Übersetzung und Mediation im Gesundheits-,
Sozial- und Bildungsbereich in Bern sowie vom Bundesamt für Gesundheit
finanziell unterstützt.
Die Dolmetscherdienste, glaubt Andreas Bitterlin, Pressesprecher des Kantonsspitals
Basel, leisteten sogar einen Beitrag zur Kostendämpfung. Die Beratungsgespräche
verliefen strukturierter, Mehrfachbehandlungen oder überflüssige Überweisungen
könnten vermieden werden. "Die Erfahrung wie auch Studien zeigen,
dass der Dolmetscherdienst bei komplexen medizinischen Problemen qualitativ
bessere und kürzere Diagnosewege bringt'', sagt Bitterlin.