Neue Zürcher Zeitung, 02.09.2000
Neues Feindbild der türkischen Armeeführung
Der religiöse Führer Fethullah Gülen im Schussfeld der Kritik
Der türkische Generalstabschef hat einmal mehr die Säuberung des Staatsapparates von islamistischen und separatistischen Beamten gefordert. Im Schussfeld der Kritik stehen diesmal hauptsächlich Anhänger des religiösen Führers Fethullah Gülen. Dieser vertritt einen gemässigten und nationalistischen Islam und stand lange in der Gunst der Regierung.
it. Istanbul, 1. September
Der türkische Generalstabschef, Hüseyin Kivrikoglu, hat den «Nationalen Tag des Sieges» zum Anlass genommen, seine Meinung zu den jüngsten politischen Entwicklungen darzulegen. Es gebe Tausende von Angestellten in Schlüsselpositionen und niedrigen Kaderstellungen, welche die Integrität des Staates zu untergraben versuchten, liess der General am Mittwochabend eine kleine Journalistengruppe wissen. Reaktionäre - gemeint sind islamistische - Kräfte hätten sämtliche Bereiche des Staates infiltriert, erläuterte er weiter. Diese aus dem Staatsdienst rechtzeitig zu entfernen, sei eine Pflicht für die Nation und eine Prestigefrage für die Regierung. Andernfalls drohten diese Kräfte, einem Paar fauler Aprikosen in einem Korb voller Früchte gleich, mit der Zeit ihre ganze Umgebung zu verderben. Kivrikoglu nahm mit dieser Erklärung Stellung zu einer heftigen Kontroverse, die seit Wochen das Gespräch in Ankara bestimmt und bereits eine tiefe Kluft zwischen der Regierung und dem Präsidenten Ahmet Sezer aufgerissen hat.
Ausgelöst wurde die Kontroverse Anfang August, als Präsident Sezer sein Veto gegen ein umstrittenes Regierungsdekret eingelegt hatte. Das Dekret sollte der Regierung ermöglichen, mit einem vereinfachten Verfahren angeblich staatsfeindliche Beamte lebenslänglich aus dem Staatsdienst zu entlassen. Gemäss dem Wortlaut des Dekrets ging es um Beamte, die in «separatistischen oder reaktionären» Aktivitäten involviert sind. Da das Vergehen nicht näher definiert wurde, vermuten Gewerkschaften sowie Menschenrechtsorganisationen, dass kurdische und islamistische Oppositionelle auf diese Weise entlassen werden könnten. Rund 37 000 Personen stünden im Visier. Der Präsident hatte das Dekret aber als verfassungswidrig abgelehnt und die Regierung dazu aufgefordert, die Entlassungen staatsfeindlicher Beamten nicht mit einem Erlass, sondern durch ein vom Parlament bestätigtes Gesetz zu regeln. Mitte August schickte er das Dekret, das die Regierung unverändert vorgelegt hatte, ein zweites Mal unsigniert zurück. Unterdessen sind zwischen der Regierung und dem Sitz des Präsidenten in Cankaya manche bösen Worte gewechselt worden. Wegen des präsidialen Vetos müsse der Staat hilflos den Sold für Mörder weiterhin zahlen, hiess es in Kreisen der Regierung.
Der Regierungschef Ecevit drohte gar damit, den Präsidenten zum Rücktritt zu zwingen oder seine Kompetenzen zu reduzieren. Das Dekret habe in Kraft zu treten, forderte der Ministerpräsident, denn es sei Teil der Beschlüsse vom 28. Februar 1997. Damals hatte die mächtige Armeeführung die Islamisten zur wichtigsten Gefahr der Nation erklärt und die Regierung des Islamistenführers Erbakan zum Rücktritt gezwungen. In der Türkei war von einem samtenen Putsch der Generäle die Rede. Während der letzten zwei Jahrzehnte haben sich die Politiker in der Regel dem Willen der Militärführung untergeordnet. Dass diesmal der Präsident trotz der Gefahr eines Konflikts mit den Generälen an seiner Position festhielt, hat ihm erstaunliche Popularität eingebracht. Laut einer Umfrage Ende August haben fast drei Viertel der Befragten erklärt, der Präsident habe rechtens gehandelt. Interessanterweise richtete sich die Kritik des Generalstabschefs Kivrikoglu vom Mittwoch nun aber weniger gegen den respektierten Präsidenten. Seine harschen Worte waren vielmehr ein unverhohlener Angriff gegen den Regierungschef Ecevit.
Die Armeeführung macht in letzter Zeit kein Hehl daraus, dass sie Ecevit nicht länger zutraut, die von ihr gewünschte Säuberung des Staates von islamistischen Kräften durchzusetzen. Als Beweis für ihr Misstrauen wies sie auf die Toleranz hin, die der Regierungschef dem religiösen Führer Fethullah Gülen entgegenbringe. Ecevit hatte die Schulen Gülens öffentlich mehrmals gelobt. Und der stellvertretende Ministerpräsident Özkan ist laut Presseberichten Mitglied von Gülens Religionsgemeinschaft. Gülen vertritt einen gemässigten Islam, der gegenüber andern Religionen tolerant ist und sich den Wissenschaften nicht verschliesst. Die Besonderheit von Gülens Lehre liegt darin, dass sie nationalistische Züge trägt. Gülens Anhänger, die Gülencis, machen eine klare Trennung zwischen einem türkischen Islam, dem sie eine Führungsrolle zusprechen, und einem arabischen Islam, der ihrer Meinung nach rückständig ist und ein Hindernis für die spirituelle Erneuerung der muslimischen Welt bildet.
Die Gülencis entwickelten sich seit Beginn der neunziger Jahre zu einer der einflussreichsten sozialen Bewegungen in der Türkei. Gülens Absichten ergänzten sich mit der Vision des damaligen Präsidenten Özal, den Einfluss Ankaras in den Balkan und bis nach China ausdehnen wollte. Während des vergangenen Jahrzehnts konnte Gülens Bewegung mit Unterstützung der türkischen Staatsführung in der Türkei, in Zentralasien und im Südbalkan über 200 Schulen und 13 Universitäten errichten.
Laut der jüngsten Erklärung Kivrikoglus haben die Reaktionäre, gemeint sind die Gülencis, alle Bereiche des Staates infiltriert. Weil ein Staatssicherheitsgericht vor kurzem einen Haftbefehl gegen Gülen aufgehoben hatte, beschuldigte der General gar die Justiz, von Reaktionären infiltriert zu sein. Wenige Stunden nach dieser Erklärung wurde vor dem Staatssicherheitsgericht in Ankara ein Prozess gegen Gülen eröffnet. Der religiöse Führer wird beschuldigt, eine illegale Organisation mit dem Ziel gegründet zu haben, die laizistische Staatsordnung durch einen islamistischen Staat ersetzen zu wollen. Der Generalstabschef hat somit die politischen Richtlinien erneut angegeben. Unklar ist, wie die Europäische Union diesmal auf die Intervention der Armee reagieren wird. Im letzten Dezember wurde in Helsinki die Türkei zur EU-Beitrittskandidatin ernannt. Eine der Hauptbedingungen für eine Annäherung Ankaras an die EU war eine Verminderung der dominanten Rolle der türkischen Armee in der Politik.