taz 2.9.2000
"Zelle ist Folter" und "Isolation ist Mord"
Angehörige von Gefangenen kämpfen in der Türkei gegen die Verlegung von Häftlingen in Gefängnisse mit Einzelzellen
ISTANBUL taz Fast jedes Wochenende sind in Istanbul und anderen großen Städten der Türkei derzeit ähnliche Bilder zu besichtigen. Kleine Gruppen von Demonstranten ziehen durch die Innenstadt und schwenken Transparente "Gegen Isolationshaft" oder Plakate mit der Aufschrift "Zelle ist Folter". Fast immer greift die Polizei ein, es kommt zu Rangeleien und Festnahmen. Mehr als 200 Demonstranten sind bislang vorübergehend festgenommen worden, etliche wurden verletzt, wenn die Polizei in gewohnt brachialer Weise die nicht genehmigten Demonstrationen auflöste. Doch glaubt man den Beteiligten, ist das erst der Anfang. "Sie werden", sagt Mehmet Dönmez, "unsere Kinder nicht in diese Isolationszellen bringen. Vorher müssen sie uns töten."
Mehmet Dönmez ist 66 Jahre alt und einer der Aktivisten von Tayad, dem Verein der Angehörigen von Gefangenen. Seit Monaten organisiert der Verein die Demonstrationen, vor wenigen Tagen haben Sprecher des Vereins einen großen Hungerstreik angekündigt, wenn der Staat versuchen sollte, Gefangene in die "F-Typ"-Knäste zu verlegen.
F-Typ heißen die neuen Gefängnisse, die in der Türkei im Zuge einer Knastreform gebaut werden. Die wesentliche Neuerung besteht darin, dass die Gefangenen in Einzelzellen oder maximal zu dritt untergebracht werden, statt wie bislang in Sälen mit bis zu 100 Personen.
Knäste in der Türkei sind zwar unter hygienischen Gesichtspunkten oder was die Verpflegung angeht oft eine Katastrophe, und doch gilt die Faustregel: Wer es erst mal bis in den Knast geschafft hat, ist aus dem Schlimmsten raus. Gefoltert wird hauptsächlich auf den Polizeistationen während der Untersuchungshaft, erst mal im Knast gelandet, sind dann die Häftlinge oft fast sich selbst überlassen. In den Großraumzellen wird gekocht und auch der Tagesablauf von den Knackis selbst geregelt. Besonders die politischen Gruppen, aber auch die kriminellen Mafiavereinigungen, sind in den Knästen bestens organisiert - die Zusammenlegung bestimmter Gefangener war bislang kein Thema.
Das führt dazu, dass das Aufsichtspersonal kaum noch Einfluss darauf hat, was im Knast passiert. Mafiagrößen gehen per Handy ungehindert ihren Geschäften nach, und rechte wie linke Politgruppen betreiben regelrechte Ausbildungsprogramme für ihre Anhänger. Damit einher geht allerdings ein enormer Gruppendruck. Abweichler haben keine Chance, und vermeintliche oder tatsächliche Verräter leben nicht mehr lange. Konflikte gibt es dann, wenn der Staat versucht, in diese Selbstorganisation einzugreifen. Auslöser für Gefängnisrevolten sind in aller Regel Versuche, Gefangene zu verlegen, oder Zellenrazzien. In diesen Fällen werden die Großraumzellen gleich von einem ganzen Kommando gestürmt. Das Ergebnis sind Prügel, Verletzungen und immer wieder tote Gefangene.
Diese unhaltbaren Zustände, so Justizminister Hikmet Sami Türk, sollen durch den Bau neuer Gefängnisse beseitigt werden. Kleine Zellen nach westlichem Vorbild sollen für einen geregelten Knastablauf sorgen. Elf dieser neuen Knäste sind nun fertig, und als erstes will das Justizministerium die politischen Gefangenen, Kurden und Islamisten, verlegen. Um den Protesten die Spitze zu nehmen, hat Türk Vertreter von Menschenrechtsorganisationen zu einem Besichtigungstermin eingeladen. "Viele Kritiker", so Türk, "wissen gar nicht, wovon sie reden. Sie haben nie ein F-Typ-Gefängnis besichtigt." Doch die Besichtigung hat an den unterschiedlichen Einschätzungen der neuen Knäste nichts geändert.
Vertreter von Menschenrechtsorganisationen und Mitglieder von Tayad waren nach einem Gefängnisbesuch in Sincan bei Ankara mehr denn je davon überzeugt, dass eine menschenwürdige Unterbringung dort nicht möglich ist. Tayad-Aktivist Dömnez sagte nach der Besichtigung: "Es ist kein Leben in diesen Gefängnissen. Das Wasser ist außerhalb der Zellen, und der Strom kann abgestellt werden, wenn die Wärter das wollen. Die Wände sind schalldicht. Wenn sie wollen, können sie die Gefangenen foltern, ohne dass jemand davon etwas mitbekommt."
JÜRGEN GOTTSCHLICH