taz 5.9.2000

Die Mutter der Munitionskiste

Bei Rüstungsexporten wollte Rot-Grün die Menschenrechtslage besonders berücksichtigen. Die erste Entscheidung ist ernüchternd - und ein Skandal

Lange blieb die zweifelhafte Entscheidung geheim, jetzt wurde sie öffentlich: Bereits im Juni hat der Bundessicherheitsrat den Export einer Fertigungsanlage für Gewehrmunition des Kalibers 5,56 Millimeter in die Türkei gebilligt. Lieferant ist die für dubiose Rüstungsexporte sattsam bekannte, früher bundeseigene Firma Fritz Werner AG in Geisenheim. Der Vertragswert beträgt 90 Millionen Mark.

Das geheime Gremium fällte gleich mehrere streitwerte Entscheidungen. Saudi-Arabien bekam die Erlaubnis, deutsche Panzerfäuste zu importieren; die Vereinigten Arabischen Emirate dürfen wahrscheinlich - wie von Verteidigungsminister Scharping gewünscht und zu einem korruptionsverdächtigen Preis - deutsche Radpanzer des Typs "Fuchs" einführen. Und die Türkei wird deutsche Gewehre und die dazugehörige Munition in Lizenz fertigen.

Dies sind die ersten Entscheidungen, bei denen die neuen, im Januar gebilligten restriktiveren Rüstungsexportrichtlinien angewandt wurden. Diese sehen vor, der Menschenrechtslage in den Empfängerländern besonderes Gewicht beizumessen und dem Kriterium der Gewaltprävention Rechnung zu tragen. Die ersten konkreten Entscheidungen wurden mit Spannung erwartet, würden sie doch zeigen, ob den schönen Worten auch wirklich eine restriktive Exportpraxis folgt.

Das Ergebnis ist ernüchternd - und ein Skandal. Die Ausfuhrgenehmigung für die Munitionsfabrik in die Türkei ist äußerst problematisch. Was, wenn nicht Gewehrmunition, wird wohl bei innerer Repression, bei Menschenrechtsverletzungen und Konflikten niedriger Intensität eingesetzt? Mit welchem Argument lassen sich künftig Pan- zerexporte ablehnen, wenn man heute die Standardmunition für jeden türkischen Soldaten liefert?

Die Bundesregierung sieht in der Munitionsfabrik eine Altlast der Regierung Kohl. Seit 1997 seien Voranfragen der Industrie von den zuständigen Behörden positiv beschieden worden. Eine Genehmigung sei aufgrund der Bindewirkung dieser Bescheide unumgänglich. Doch halt! Politisch stellt sich die Frage anders: Wie viel ist der Bundesregierung ihre Glaubwürdigkeit wert? Warum riskiert sie keinen Rechtsstreit? Im schlechtesten Fall könnte der Staat zum Schadenersatz verpflichtet werden. Dabei könnte die Fritz Werner AG Akquisitionskosten und entgangene Gewinne geltend machen - also weit weniger als den Gesamtumfang des Projektes. "Peanuts" angesichts des sonst üblichen Umgangs der Politik mit den Steuergeldern. Aber zu viel für die Glaubwürdigkeit einer "restriktiven" rot-grünen Rüstungsexportpolitik?

In der Tat, positiv beschiedene Voranfragen stellen - so die Meinung etlicher Juristen - einen Verwaltungsakt mit rechtlicher Bindungswirkung dar. Sie können für den Anfragesteller einen Anspruch auf Vertrauensschutz begründen und Rechtssicherheit herstellen. Voranfragen sind daher üblich, wenn Vorhaben der behördlichen Genehmigung bedürfen - im Umweltschutz, bei Bauvorhaben oder auch bei Rüstungsexporten. Sie werden allerdings in der Regel unter dem Vorbehalt beschieden, dass sich die Rechts- und Sachlage nicht gravierend verändern.

Zugleich - und dies wird am Beispiel der geplanten Rüstungsexporte deutlich - sind Voranfragen aber auch ein Instrument, um die Politik zu enteignen. Wenn die Auskunft einer Bundesbehörde gegebenenfalls über Bundestagswahlen, Regierungs- und Politikwechsel hinaus Regierungshandeln präjudizieren kann, dann wird der politsche Gestaltungsraum durch das Verwaltungshandeln der Vergangenheit viel zu stark eingeschränkt.

Zu meinen, dass neue Rüstungsexportrichtlinien den alten Verwaltungsakt einer positiv beschiedenen Voranfrage nicht mehr aufheben könnten, sondern nur noch eine Gesetzesänderung - das mutet grotesk an. Denn das Instrument der Voranfrage ist im Text des Verwaltungsverfahrensgesetzes nicht einmal verankert. Es ist lediglich Teil der juristischen Praxis.

Zwar ergibt sich aus dem Verwaltungsverfahrensgesetz ein strenger Schutz der Betriebsgeheimnisse von Firmen - doch die Ursache für die äußerst akribische Geheimhaltung von Rüstungsexportentscheidungen dürfte anderswo zu suchen sein: Die Verwaltung will vor allem ihr eigenes Vorgehen vor öffentlicher Kritik schützen - und vor der Frage, ob der Außenhandel mit Rüstungsgütern wirklich dem Export von Strumpfhosen, landwirtschaftlichen Erzeugnissen oder Glühbirnen vollständig gleichgestellt sein muss.

Dass es mehr um die Geheimhaltungswünsche der Verwaltung denn der Firmen geht - auf diesen Gedanken könnte auch kommen, wer sich ansieht, wie die geheime Entscheidung des Bundessicherheitsrates bekannt wurde: Die Fritz Werner AG selbst machte die Vertragsunterzeichnung mit der Türkei öffentlich. Fachzeitschriften berichteten bereits vor mehr als einem Jahr über das Vorhaben. Warum also die Geheimniskrämerei der Politik, wenn Firmen doch keine Scheu zeigen, ihre Exporterfolge öffentlich zu machen?

Transparenz, parlamentarische Kontrolle sowie öffentliche Kenntnis sind bei Rüstungsexportentscheidungen zwingend notwendig. Vorsicht ist die Mutter der Munitionskiste - wie die ersten Entscheidungen zeigen, dürfte dies eine nützliche Maxime für die Beobachtung der Exportpolitik auch dieser Bundesregierung sein. Rot-Grün ist kein Garant für restriktiveren Rüstungsexport.

Sollte dies Anlass für einen Streit in der Koalition sein? Ich denke ja. Denn bald droht eine deutliche Ausweitung des Rüstungsexports. Gar nicht mal vorrangig, weil die wehrtechnische Industrie es wünscht - sondern vor allem, weil Rudolf Scharping die Exporterlöse braucht. Der Verteidigungsminister muss die Bundeswehr verkleinern und will sie gleichzeitig modernisieren. Dazu hofft er auf die zusätzlichen Einnahmen aus dem Verkauf des überflüssigen Wehrmaterials, um dem Verteidigungshaushalt endlich die Mittel zuzuführen, die ihm Kanzler, Finanzminister, Haushälter und Grüne bislang zwecks Haushaltskonsolidierung erfolgreich verweigerten. Und wenig ist es nicht, was der Verteidigungsminister abstoßen kann. Die Reduzierung der Bundeswehr von 650.000 Soldaten auf 500.000 Soldaten im Verteidigungsfall macht so manche vorrätige Waffe überflüssig.

Ein Vorbild dafür gibt es schon: Auch die Waffenbestände der Nationalen Volksarmee wurden auf dem Exportwege aufgelöst und in (fast) alle Welt verteilt. Denn der Export war billiger als das Verschrotten. Und dieser kostengünstigste Weg musste sogar beschritten werden, weil dies die Bundeshaushaltsordnung bis heute vorschreibt. Auch hier ist zu fragen: Was hindert die Bundesregierung, diese Verwaltungsvorschrift zu ändern und überflüssige Rüstungsgüter anders zu behandeln als die gebrauchten Büromöbel und Computer des Beamtenapparats? Allenfalls ist es fehlender politischer Wille.

OTTFRIED NASSAUER

Ottfried Nassauer ist Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit. Im Frühjahr starteten medico und taz eine Unterschriftenaktion für Transparenz bei Rüstungsexporten: www.medico.de