Rückkehr in die Heimat
Die türkische Regierung hilft den Kurden bei der Rücksiedlung, doch
das staatliche Projekt ist umstritten
Anderthalb Jahre nach der Gefangennahme von PKK-Chef Abdullah Öcalan und ein Jahr nach dem Rückzug der PKK gibt es in den kurdischen Gebieten der Türkei kaum noch Kämpfe. Eine gute Gelegenheit, um in die während des Konfliktes zerstörten Dörfer zurückzukehren, meinen viele Kurden. Ähnlich denkt auch der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit - und er hat dazu noch eine besondere Idee. Sein Dorf-Stadt-Projekt soll eine ganz neue Siedlungsform hervorbringen. Durch die Zusammenlegung mehrerer alter Dörfer entstehen Siedlungen, die ihren Bewohnern mehr staatliche Dienstleistungen bieten können. Jedes dieser neuen Dörfer wird eine Schule und eine Polizeiwache haben. Bei der Grundsteinlegung für eine dieser Siedlungen am Wochenende lobte Ecevit sein Projekt in höchsten Tönen: «Sie sind an der Schwelle zu einem neuen Leben», sagte er den Dorfbewohnern und fügte hinzu, dass sie das Projekt ja selbst gewollt hätten.
Von der Armee zerstört
Nicht alle Kurden freilich denken so. Kritisiert wird etwa, die neuen Dörfer würden nicht nach den ökonomischen Erfordernissen, sondern nach strategischen Gesichtspunkten angelegt. Der Staat betrachte die Rücksiedler hauptsächlich als seine Soldaten. Wir sitzen in einem Garten in einem Vorort der südosttürkischen Stadt Diyarbakir. Die meisten Anwesenden sind kurdische Bauern aus der Gegend von Silvan und Kulp, die in der Stadt nun auf dem Bau arbeiten. Die Männer sitzen vorne, ein paar Frauen hinten in einer Ecke. Am Anfang der Unterhaltung erzählt eine etwa 50-jährige Frau mit Hilfe ihrer knochigen, von der Arbeit gezeichneten Hände, wie ihr Dorf zerstört wurde. Am Morgen seien Soldaten gekommen, hätten sie gezwungen, die Häuser zu verlassen, und hätten diese dann angesteckt. «Ihr seid Armenier, und euer Apo ist auch ein Armenier», hätten sie geschimpft. Auch die Obstplantagen seien zerstört worden. So könnten sie nicht zurückkehren, und ausserdem müsste sie der Staat für die Zerstörungen entschädigen. Nun ergreifen die Männer das Wort und behalten es bis zum Schluss. «Wir sind Kurden, ich möchte auf jedem Amt sagen können, dass ich Kurde bin. Ich möchte in der Schule, im Spital und in der Moschee Kurdisch sprechen dürfen. Wenn ein Imam in der Moschee ein kurdisches Wort sagt, dann muss er gehen», sagt einer der Bauern. Ein anderer fügt hinzu: «Alle Kinder haben Angst vor dem Militär. Wenn wir etwas wollen, kann ein Hauptmann oder selbst ein Unteroffizier sagen: 'Für dich bin ich der Staatspräsident', und nichts gilt mehr.» Das Problem hier sei kein ökonomisches, wie immer gesagt werde, sondern ein politisches, meint ein Dritter, und alle stimmen zu.
Öcalan immer noch verehrt
Ein Mann um die Vierzig mit pockennarbigem Gesicht und städtischer Kleidung anerbietet sich zunächst, die Worte eines Alten vom Kurdischen ins Türkische zu übersetzen, doch rasch redet nur noch er selbst. Der Stil seines Monologes erweckt den Verdacht, dass er über weite Strecken einfach auswendig wiederholt, was er in den Schriften Abdullah Öcalans gelesen hat. Dieser sei der grösste Friedensstifter, den es je gegeben habe, meint er. Öcalan habe es erreicht, dass man sich nun nicht mehr umbringe, weil man Muslim, Christ oder Jude, Alewit oder Sunnit sei. Die Feindschaften zwischen Völkern und zwischen den Stämmen hätten aufgehört. Ein ehemaliger Gastarbeiter drängt sich mit der rhetorischen Frage dazwischen: «Haben sich für irgendeinen Propheten je so viele Menschen selbst verbrannt wie für Abdullah Öcalan?» Die beschworene Verbrüderung der Menschen ist rasch zu Ende, wenn die Rede auf irgendeine andere kurdische Partei als jene Öcalans kommt. Die Bemerkung, es gebe nun auch Kurden, die sagten, Öcalan habe sich im Gefängnis zum Sprecher des türkischen Staates gewandelt, kommt nicht gut an. Die Wortführer schieben diese Behauptung einer bestimmten kurdischen Fraktion in die Schuhe, an der kein gutes Haar bleibt.
Zum Beispiel Kusdami
Szenenwechsel: Das Dorf Kusdami ist eines der Rücksiedlungsprojekte, die der stellvertretende Gouverneur von Diyarbakir für eine Besichtigung empfohlen hatte. Kusdami liegt auf einer Anhöhe und besteht nur aus elf neu erbauten Häusern, in welche die Frauen sofort verschwinden, wenn ein Fremder naht. Ihre Männer sind seit zehn Jahren in der Miliz der Dorfschützer und erhalten ein monatliches Gehalt von knapp dreihundert Mark. «Jeder Schuhputzer verdient mehr», fügt einer von ihnen verärgert hinzu. Doch in dieser ländlichen Region lässt sich damit auskommen. Die Dorfschützer betonen ausdrücklich, dass sie nebenher keine Landwirtschaft betrieben. Dass sie dies so sehr betonen, macht stutzig und lenkt die Aufmerksamkeit auf einen frisch gepflügten Acker, gleich neben dem Dorf. Vielleicht haben sie Angst, ihr Gehalt zu verlieren, sollte sich herumsprechen, dass sie noch eine andere Einnahmequelle haben. Ihr altes Dorf haben die Leute vor acht Jahren aus Angst vor der PKK verlassen. Kusdami liegt wenige hundert Meter von der Strasse in einem nach allen Seiten hin gut einsehbaren Gelände, sicher eine strategisch günstige Lage. Doch die Bewohner verneinen, dass man sie überredet habe, nicht wieder an der alten Stelle zu siedeln. Sie finden den jetzigen Platz einfach viel geeigneter. Der Staat hat ihnen das Baumaterial gegeben, und sie haben damit selbst die Häuser gebaut. Sie wären zufrieden, wenn sie nur Wasser hätten, das es in ihrem alten Ort allerdings gab. Der zuständige Landrat, Urhan Uslu, ein dynamischer junger Beamter aus der Schwarzmeerregion, ist bei den Dörflern angesehen, doch helfen kann er nicht. Der Budgetposten für die Rücksiedlung ist beschränkt für die Bohrung eines Tiefbrunnens, der in Kusdami notwendig wäre, reicht das Geld nicht. So überlegen die Dörfler bereits, ob sie ihre neu gebauten Häuser wieder verlassen und zurück in die Stadt ziehen sollen. In dieser Gegend muss man sich daran gewöhnen, dass Fragen unbeantwortet bleiben. Auch daran, überall auf Überraschungen zu stossen. Dazu gehört Fazil Yazici. Als Anführer des kurdischen Stammes der Beritan könnte er wie andere Stammeschefs ein bequemes Leben führen. Er könnte im Parlament sitzen, seine Kinder in den USA studieren lassen und seine Stammesuntertanen von aller Bildung fern halten. Doch solch ein Stammesfürst, der seine Untertanen auch verheiratet und scheidet, möchte der 27-jährige Fazil Yazici nicht sein. Den Beritan-Stamm mit seinen 50 000 Menschen führt er als Kooperative, in der er sich Wahlen stellen muss und ihm ein gewählter Leitungsrat zur Seite steht.
Ein Stamm wird sesshaft
Traditionell betreiben die Beritan Viehzucht. Teilweise wohnen sie im Winter in Dörfern, die sie im Sommer verlassen, um mit ihren Tieren über Land zu ziehen, teilweise leben sie das ganze Jahr über in Zelten. Fünfzehn Jahre Kämpfe zwischen Staat und PKK haben auch sie hart getroffen. Um das Land besser kontrollieren zu können, wurden Weideverbote verhängt. In der Folge sank der Viehbestand der Beritan von 600 000 bis 700 000 auf nunmehr 200 000 Tiere. Die Beritan hielten sich aus dem Konflikt mehr oder weniger heraus und stellten keine Dorfschützer. Beide Seiten respektierten den mächtigen Stamm, und keines seiner 56 Dörfer wurde zerstört. Trotz der Neutralität stehen dem jungen Stammeschef in Ankara die Türen offen. Er bekommt Hilfe für sein Projekt, die Beritan in grösserem Umfang sesshaft zu machen und die Nomaden an Feldbau zu gewöhnen. Einen Teil dieser Aufgabe löst er auch mit den Mitteln der Kooperative. 700 Haushalte konnte er so in zwei Jahren ansiedeln. Aber den Erfolg von Ecevits Dorf-Stadt-Projekt bezweifelt er. Man müsse die Leute dorthin zurücksiedeln, wo ihre Felder liegen, also die alten Dörfer wieder aufbauen. «Wenn das geschieht, wird das Rücksiedlungsprojekt erfolgreich sein, andernfalls wird es scheitern.» Jan Keetman, Diyarbakir