Erstmals regt sich Kritik aus den eigenen Reihen an Staatspräsident Khatami / Der gewaltige Schatten des Ayatollah Khomeini
Die Reformer im Iran stecken in der Sackgasse
Von unserem Mitarbeiter Ahmad Taheri
"Die bloßen Artigkeiten sind der Sache der Reformen nicht dienlich", rügte unlängst der Verband der islamischen Studenten eine der Hauptsäulen der Reformbewegung, Sayyed Mohammad Khatami. Der Staatspräsident hatte tagelang zu den Vorfällen in der Provinzstadt Khorramabad, wo es zwischen Schlägertrupps und Studenten zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen war, geschwiegen. Es ist das erste Mal, dass die jugendlichen Anhänger des Staatschefs an ihm Kritik üben. Seit seiner Wahl zum Staatspräsidenten im Mai 1997 war Khatami das Idol der akademischen Jugend.
Khatami, ein islamischer Intellektueller, gilt als politischer Führer und geistiger Wegweiser zugleich. Mit einer neuen Lesart des Islam will er Religion und Demokratie im real existierenden Gottesstaat versöhnen. Aus der Trutzburg der klerikalen Unduldsamkeit soll eine Hochburg der islamischen Toleranz werden. "Er glaubt an das, was er sagt, darin liegt seine Popularität", bescheinigte der Philosoph Abdulkarim Sorush die Redlichkeit des Präsidenten. "Lächeln und Blumen" war die Metapher der Reformer für gewaltfreien politischen Wandel. "Zwei Schritte vorwärts, einen zurück", hieß ihre Devise für den Marsch durch die Institutionen.
Die Reformbewegung erreichte ihren Höhepunkt bei den Parlamentswahlen im Februar dieses Jahres. Jetzt halten die Reformer nicht nur die Exekutive, sondern auch die Legislative in der Hand, die bis dahin eine Bastion der Rechten gewesen war. Die konservativen Kleriker hockten im Schmollwinkel und sannen auf Rache für die erlittene Schmach. Eine Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin, an der zwanzig islamische und weltliche Intellektuelle aus dem Iran teilgenommen hatten, nahmen die Rechten zum Anlass, um zurückzuschlagen. Nicht der Geheimdienst, der früher unliebsame Dissidenten ermordete, war ihr Vollstrecker, sondern die Justiz. Khatami nahestehende Zeitungen wurden verboten. Prominente Journalisten landeten im Gefängnis. Widerstand leistete niemand. Das neue Parlament würde die Pressefreiheit erneut herstellen, meinten die Reformer. Doch es kam anders als erwartet. Im August verbot Ayatollah Khamenei dem Parlament, über ein liberales Presserecht zu debattieren. Das alte Gesetz habe sich als fähig erwiesen, die Islamische Republik vor ihren Feinden zu schützen. Trotz der Proteste der Abgeordneten setzte Parlamentspräsident Mahdi Karrubi die Debatte kurzerhand von der Tagesordnung ab. In wenigen Minuten war also das Parlament entmündigt worden, und damit die Millionen Bürger, die es gewählt hatten.
Seither sind die Reformer ratlos. Die Reformbewegung scheint in eine Sackgasse geraten zu sein. "Die Reformer werden weiterhin an aktiver Friedfertigkeit festhalten", sagt der Studentenführer Ali Afshari. Aber längerfristig müsse das theokratische Prinzip des Staates überdacht werden. Eine Meinung, die viele Intellektuelle und junge Kleriker teilen.
Zu Lebzeiten von Ayatollah Khomeini überdeckte sein gewaltiger Schatten die Antagonismen von Volkswillen und theokratischem Dogma. Nach dem Tod des charismatischen Revolutionsführers änderten seine Erben die Verfassung. Die "Herrschaft des Rechtsgelehrten" wurde mit dem Attribut "absolut" versehen. Der Mangel des neuen Führers Khamenei an persönlicher Autorität sollte durch die Gewichtigkeit seines Amtes ausgeglichen werden. Aus dem geistlichen Leiter der Gemeinschaft der Gläubigen wurde ein absolutistischer Alleinherrscher. Khatami hat angekündigt, für eine zweite Amtsperiode zu kandidieren. Er hat in den vergangenen drei Jahren eine Reihe außenpolitischer Erfolge aufzuweisen. Die Beziehungen zu vielen Ländern im Nahen und Mittleren Osten haben sich entspannt. Der iranische Staatschef ist ein gern gesehener Gast in den Hauptstädten des Westens. Sein internationales Renommee wird seine Position im eigenen Land festigen. Auch Teile der Mullahs sind daran interessiert, dass Iran nicht erneut in die politische Isolation zurückfällt. Doch wie es mit den Reformen in der Islamischen Republik weitergeht, kann heute niemand beurteilen.
Die Politik in Teheran ist voller Unwägbarkeiten. Eins aber lässt sich voraussagen: Dem schiitischen Gottesstaat stehen keine erfreulichen Zeiten bevor. Die militanten Fundamentalisten werden alles versuchen, um eine Wiederwahl von Khatami bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2001 zu verhindern.