Langsam kehrt Normalität ins Leben der Familie Karaca ein
Nach Kirchenasyl Sorge darüber, was nach Ablauf der Duldung wird - Gemeinde hilft weiter
Von Kathleen Niepmann
GIESSEN-KLEINLINDEN. Nicht nur Erleichterung steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Nach zwei Jahren, in denen die fünfköpfige Familie Karaca im Kirchenasyl in Kleinlinden gelebt hat, hat sie am vergangenen Wochenende zum ersten Mal wieder tun können, was für Andere selbstverständlich ist: Sie hat Freunde besucht. Möglich wurde das, weil der Landrat des Kreises Gießen der Familie eine Duldung ausgesprochen hat. Die allerdings ist befristet auf drei Monate. Ein Grund, warum in den Augen der Familie nicht nur Erleichterung zu lesen ist, sondern auch Sorge darüber, was nach Ablauf dieser Zeit sein wird.
Fast zehn Jahre leben die Eltern Nasir und Güllü Karaca mit ihren drei Kindern in Deutschland. Nasir Karaca arbeitete bis vor acht Jahren in einem landwirtschaftlichen Betrieb und sorgte für sich, seine Frau und seine Kinder. Die kurdische Familie galt in ihrem Umfeld - sie lebte in einem Licher Stadtteil - als integriert. Am 1. September 1998 sollte die Familie, die in Deutschland Asyl beantragt hatte, jedoch in die Türkei abgeschoben werden. Aus Angst vor Haft und Folter tauchte sie unter und fand kurz darauf in der evangelischen Kirchengemeinde Kleinlinden Schutz im Kirchenasyl.
Seither lebte die fünfköpfige Familie in zwei Räumen der Kirchengemeinde. Sie hat Hilfe bei Christen aus der Gemeinde gefunden, die Zeit und Geld für den kirchlichen Schutz der Karacas opferten. Etwa 15 Gemeindemitglieder gehören dem so genannten Unterstützerkreis an, sie besuchen die Familie regelmäßig, erledigen Einkäufe für sie oder helfen bei den Hausaufgaben.
Nicht allein für die zwölfjährige Delek, die inzwischen die siebte Klasse besucht, sind die beiden Räume der Kirchengemeinde, in denen sie und ihre Familie leben, zum Zuhause geworden. Und wer sie fragt, wo sie am liebsten wohnen möchte, erhält als Antwort: "In Kleinlinden - oder zumindest in Gießen oder in der Nähe. Denn hier sind wir daheim." Auch in der Schule, die sie seit zwei Jahren besucht, fühlt sie sich wohl und wird von den Mitschülern anerkannt und geschätzt. Dass sie vor kurzem zur Klassensprecherin gewählt wurde, belegt dies eindrücklich.
Ihre kleinere Schwester, die siebenjährige Derja, ist gerade in die erste Klasse gekommen. Sie besucht außerdem den Kindergarten. Und "das ist wichtig für sie, denn sie braucht ja den Kontakt mit den anderen Kindern", sagen ihre Eltern. Der zweieinhalbjährige Kemel ist Dritter im Geschwisterbund. Deutsch und Türkisch sind die beiden Sprachen, mit denen der Junge aufwächst und die er seinem Kinderkauderwelsch gleichermaßen verwendet. Und als Delek an diesem Mittag aus der Schule nach Hause kommt, verkündet er lachend auf deutsch: "Ich möchte auch zur Schule.
Arbeitsstelle freigehalten
Ab heute wird Nasir Karaca wieder in einem landwirtschaftlichen Betrieb arbeiten gehen. Sein ehemaliger Arbeitgeber hatte ihm die Stelle während der Zeit des Kirchenasyls freigehalten.
Wie es für die Familie langfristig weitergeht, weiß sie noch nicht. Nasir und Güllü Karaca fragen sich zudem, "ob in diesen drei Monaten ein Umzug in eine andere Wohnung sinnvoll ist." Sie hoffen zwar darauf, dass aus der Duldung eine langfristige Perspektive wird, mit der sie in Deutschland bleiben können. Doch die Skepsis ist groß.
Gemeinsam mit den Mitgliedern des Helferkreises will man in der Gemeinde überlegen, wie die Zukunft der Karacas aussehen kann. "Die Familie muss und kann nun für sich selbst sorgen", kommentiert der zuständige Kleinlindener Pfarrer, Christoph Schulze-Gockel. Gleichzeitig weist er auf die Fürsorgepflicht der Gemeinde hin: "Wenn die Familie nach Ablauf der Frist erneut um Kirchenasyl bitten würde: Wir stehen jetzt natürlich in ihrer Pflicht.
Gesundheitliche Probleme
Die Duldung war nach Vorlage neuerer medizinischer Gutachten ausgesprochen worden. Nach Ablauf der drei Monate "muss neu entschieden werden. Dann stellt sich die Frage, ob weitere Gründe vorliegen, die Duldung zu verlängern. Oder ob sich der Gesundheitszustand gebessert hat", fasst Karl-Michael Stöppler, der Sprecher des Landratsamtes zusammen. Inhaltlich könne und dürfe er keine Auskunft über die Gutachten geben.
Die Familie Karaca allerdings macht kein Hehl daraus, dass Güllü Karaca, die Mutter, unter der Situation am meisten leidet. Schlafstörungen, "böse Träume " und ständige Kopfschmerzen sind nach eigener Aussage ihre Reaktionen auf die ungewisse Lage, in der sie und ihre Familie seit gut zwei Jahren lebt. Beim Verwaltungsgericht anhängig ist zudem eine Klage der Familie auf Zulassung eines Asylfolgeverfahrens. In diesem Jahr sei allerdings nicht mehr mit einem Ergebnis zu rechnen, so Pressesprecher Rainer Lambeck. Knapp 3000 Asylverfahren liegen derzeit noch bei dem Gießener Gericht vor.