Maulkorb für Mehmet
In der Türkei wird einer Journalistin der Prozess gemacht, weil sie in ihrem Buch junge Wehrpflichtige zu Wort kommen ließ, die in den kurdischen Gebieten eingesetzt waren.
von sabine küper-basgöl, istanbul
Drei junge Männer, große Teenager, denen gerade die Haare geschoren werden. Mit abweisendem Ausdruck, bemüht cool, versuchen sie die eigene Unsicherheit zu überspielen. So durchschnittlich und gewöhnlich wie die Rekruten auf dem Buch-Cover sind die 42 Soldaten, die im »Buch der Mehmets« ihre Geschichte erzählen. Keiner der »Mehmets«, wie in der Türkei Wehrdienstleistende genannt werden, ist ein Held. Sie kommen aus den verschiedensten Lebenszusammenhängen, und fast keiner von ihnen hat eine bestimmte ideologische Ausrichtung.
Die 42 haben nur eines gemeinsam: Monate im türkischen Kurdengebiet, die von dem Zwang bestimmt waren, einen Krieg zu führen, mit dem sie eigentlich nichts zu tun haben und dessen Ausmaß in der Türkei ignoriert wird. Wer das Schweigen bricht, wird schnell mit den Mitteln des Strafrechts diszipliniert. Im Juni 1999 wurden »Mehmet»-Autorin Nadire Mater und ihr Verleger Hüseyin Semih Sökmen wegen Beleidigung der Streitkräfte angeklagt; ihr Buch, von dem zu jenem Zeitpunkt schon 14 000 Exemplare verkauft waren, wurde beschlagnahmt und ist seitdem in der Türkei verboten.
Dabei hatte Mater eine bewusst unideologische Herangehensweise gewählt. In in ihrer eigenen Sprache erzählen die 42 Soldaten, was sie während der Militärzeit alles erlebt haben. Geschichten, wie sie in jeder zweiten oder dritten türkischen Familie die Söhne erzählen, die ihren Militärdienst in der kurdischen Region abgeleistet haben.
Gerade das macht das Buch so gefährlich. Das Schreckliche tritt darin so alltäglich in Erscheinung, dass auch nicht-ideologisierte Menschen auf den Gedanken kommen könnten, das, was sie schon immer dachten, in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Sicher gibt es die Veröffentlichungen in kleinen, marginalen Zeitungen, die Pamphlete, deren Sprache auf eine bestimmte ideologisierte Leserschaft zugeschnitten ist. Doch all das fürchten die Hüter der Staatssicherheit in der Türkei weit weniger als eine Kritik, deren Alltagssprache diejenigen erreicht, die den Tod und das Trauma von Tausenden Jugendlichen in der kurdischen Region für unsinnig halten - und das ist in der heutigen Türkei eine große, schweigende Masse.
Die Idee zu dem Buch kam Mater, nachdem sie 1997 Ahmet kennengelernt hatte. Ahmet war 25, er besaß den Magistergrad der politikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Istanbul und hatte soeben seinen Militärdienst im ostanatolischen Kars abgeleistet. Er erzählt: »Erst habe ich alle Zivilisten da unten gehasst. Ich musste für sie in ihren elenden Bergen frieren und Todesängste ausstehen. Dann kam ich zurück nach Istanbul. Ich wurde zum Zyniker und dachte: Was verstehen die Hohlköpfe hier vom Leben, und wie kommen sie dazu, das, was ich dort tun musste, in Frage zu stellen - ich musste doch, und ich wollte rleben.«
»Südosten-Trauma« nennen türkische Psychiater Ahmets existenzielles Dilemma. Damit stempeln sie all die Jugendlichen, die weit weg in einer vom Rest des Landes abgespaltenen Welt Krieg spielen mussten, zu psychiatrischen Fällen ab. Doch dort war der Krieg bittere Realität.
Ahmet erzählt viel vom Alltag in Kars: wie er in seiner Freizeit das Propaganda-Material las, das sie in PKK-Unterkünften aushoben. Schließlich war er ja Politikwissenschaftler. Polemische Pamphlete in einer einfachen Sprache, aber sie passten zur Umgebung. Hin und wieder hörten sie die Funksprüche der PKK ab. Fünf Monate lang hörte er der PKK-Kommandantin Leyla zu, die über Funk ihre Befehle verbreitete.
Eine merkwürdige Vertrautheit mit dieser Feindin baute sich auf, er hatte sogar Angst, eines Tages die junge Frau, die sicher kaum älter war als er, töten zu müssen. Gleichzeitig hasste Ahmet den Feind, der immer aus dem Hinterhalt angriff, und noch mehr hasste er die eigene Rolle: ein Hase auf der Hasenjagd. Bei einem Gefecht wurde ein Unteroffizier seiner Einheit getroffen. Ahmet rettete den Verwundeten und riskierte dabei sein eigenes Leben. Doch der Mann verblutete, weil der Rettungshubschrauber erst fünf Stunden später eintraf.
Ei n kurdischer Soldat beschreibt seine Zerrissenheit nach dem Militärdienst. In seinem Dorf weiß keiner, dass er in den Kurdengebieten auf türkischer Seite gekämpft hat. Jedesmal, wenn jemand ihn nach dem Wehrdienst fragt, durchfährt ihn ein Schreck, und automatisch lügt er: In Kayseri habe er Dienst getan, nicht im kurdischen Mardin.
In Mardin sah der junge Wehrpflichtige die Mechanismen des Krieges. Die Soldaten der Sondereinheiten, die sich, mit einem Sondersold ausgestattet, als große Schmugglerbanden hervortun und überhaupt kein Interesse an der Beilegung des Konfliktes haben. Wie selbstverständlich werden bei Bedarf die kurdischen Dörfer ausgeplündert. Obwohl die PKK in der Region längst kaum mehr präsent ist, werden in den Dörfern noch heute Lebensmittelrazzien mit der Begründung durchgeführt: »Die sollen der PKK nicht in die Hände len.«
Ein Soldat von der Schwarzmeerküste erzählt, wie er in Tunceli die Leichen zweier von der PKK ermordeter Lehrer fand. Das frisch verheiratete Paar war in einem Minibus unterwegs zur Dorfschule, in der beide unterrichten sollten. Als alevitische Kurden aus Erzincan fühlten sie sich sicher. Doch die damalige PKK-Ideologie kannte keine Gnade für Kollaborateure mit dem Feind. Damit, dass sie kurdische Kinder auf Türkisch unterrichten wollten, hatten die Lehrer sich schuldig gemacht.
Es gibt unzählige solcher authentischen Geschichten in Maters Buch. Die Autorin hat sich die Zeit genommen, all diese traumatisierten Veteranen einzeln zu treffen; sie hat ihnen Zeit gegeben zu reden und hat die Interviews in ihrer eigenen Sprache belassen. Das Buch bietet keine Helden, keine einfachen Feindbilder, und es wird auch niemand verurteilt - außer der Realität dieses Krieges und seiner Folgen.
Dass diese Folgen in der Türkei noch immer sehr aktuell sind, beweist die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft am 7. Juli für Nadire Mater und Hüseyin Semih Sökmen zwölf Jahre Haft wegen Aufwiegelung des Volkes gegen das Militär gefordert hat. Das Urteil wird am 29. September erwa rtet.