taz 12.9.2000

taz-Debatte

Die Väter der Nation

Vor 20 Jahren stürzte das türkische Militär die demokratisch gewählte Regierung. Heute schicken sich die Generäle erneut an, den Zivilisten zu zeigen, wo es langgeht

Vor zwanzig Jahren, am 12. September 1980, putschte in der Türkei die Armee. Zum dritten Mal innerhalb von dreißig Jahren jagte im "Septemberputsch" ein militärischer Apparat an der Südostflanke der Nato eine demokratisch gewählte Regierung aus dem Amt. Obwohl der Finger des Übervaters der türkischen Republik, obwohl der ausgestreckte Arm Mustafa Kemal Atatürks ganz entschieden in Richtung Westen weist, stolperten seine Gralshüter auf diesem Weg immer wieder über ihre eigenen Bajonette.

Alle zehn Jahre, das schien zum festen Bestandteil der türkischen politischen Kultur zu gehören, zeigen die bewaffneten Hüter des Kemalismus dem Land, wo es wirklich langzugehen hat. Nicht zuletzt aufgrund der Putschtradition wurde über dreißig Jahre lang nichts aus der Annäherung des Landes an das vereinte Europa - trotz des Assoziierungsvertrages, der bereits 1964 unterschrieben wurde.

Mit dem heutigen Datum ist die Türkei seit 20 Jahren putschfrei. Ende letzten Jahres wurde das Land zum offiziellen EU-Beitrittskandidaten gekürt, und erstmals seit etlichen Jahren ist in Ankara eine Regierung an der Macht, die eine gewisse Stabilität vermittelt. Hinzu kommt das Ende des Bürgerkrieges im Südosten Anatoliens. Wider Erwarten war es der Armee gelungen, die Guerilla der "Kurdischen Arbeiterpartei" PKK militärisch einzudämmen und wider Erwarten war PKK-Chef Abdullah Öcalan nach seiner Gefangennahme im Februar letztes Jahres vernünftig genug, seine Anhänger nicht zu Terroraktionen in den Metropolen der westlichen Türkei aufzurufen.

Hätte nicht im August letzten Jahres das verheerende Erdbeben gerade den wirtschaftlich stärksten Teil des Landes so schwer getroffen, dann sähe selbst die ökonomische Entwicklung ganz hoffnungsvoll aus. Ist die Türkei also jetzt endlich dabei, die Hindernisse auf dem Weg nach Westen erfolgreich einzureißen? Wird die Republik Kemal Atatürks aus europäischer Sicht zu einem normalen Land?

Mehr noch als an dem zukünftigen Umgang mit der kurdischen Frage, mehr noch als an einer erfolgreichen Folterprävention, wird sich diese Frage daran entscheiden, welche Rolle das türkische Militär in der Zukunft spielen wird.

Anfang November wird Günter Verheugen, der EU-Kommissar für die Osterweiterung, in Ankara ein Dokument präsentieren, in dem die Union auflistet, welche konkreten Schritte sie von der Türkei auf dem Weg zu Beitrittsverhandlungen mit Brüssel erwartet. Die türkische Regierung wird ihrerseits ein Programm vorlegen, in dem sie darlegt, welche Ziele sie bis wann erreichen und welche konkreten Maßnahmen sie wie umzusetzen gedenkt. Diese beiden Erklärungen, genannt "Beitrittspartnerschaft", sollen dann die Grundlage für die "Roadmap" der Türkei auf dem Weg in die Europäische Union werden.

Doch just in dieser Phase intensiver Verhandlungen mit Brüssel und rechtzeitig zum 20-jährigen Putschjubiläum schickt sich das türkische Militär erneut an, mit drohendem Unterton der amtierenden, demokratisch gewählten Regierung zu zeigen, wo ihre Kompetenzen enden. Zuerst produzierten sie eine Krise der höchsten staatlichen Institutionen, weil sie Ministerpräsident Bülent Ecevit in einen Konflikt mit Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer drängten, der sich weigerte, ein Dekret zu unterzeichnen, das Ecevit auf Wunsch der Militärs vorgelegt hatte. Dann setzte Generalstabschef Hüseyin Kivrikoglu am Jahrestag der Armee vor zwei Wochen noch eins drauf und kritisierte öffentlich Regierung und Justiz des Landes als unfähig im Kampf gegen den islamischen Fundamentalismus.

Der Kampf gegen die drohende Unterwanderung des Staates durch islamische Kader ist bei der türkischen Armee allmählich zur Obsession geworden. Seit die Militärs durch massiven Druck - viele sagen, einem stillen Putsch - die islamistische Regierung unter Necmettin Erbakan im Frühjahr 1997 zu Fall brachte, hat der Kampf gegen die "Reaktionäre", wie die Islamisten vom Militär genannt werden, oberste Priorität.

Die Armeeführung ist offenbar zutiefst davon überzeugt, dass die zivile Politik letztlich unfähig ist, die islamische Gefahr realistisch einzuschätzen und entsprechend dagegen vorzugehen. Deshalb drohte Generalstabschef Kivrikoglu nun ziemlich unverhohlen, das Militär werde die Sache selbst in die Hand nehmen, wenn das Parlament nicht in kürzester Frist ein Gesetz verabschiedet, auf dessen Grundlage die "Reaktionäre" aus dem öffentlichen Dienst gefeuert werden können.

Das Echo auf den Auftritt Kivrikoglus in der türkischen Öffentlichkeit war gespalten. Während einige Kolumnisten gegen die Anmaßung des Militärs protestierten, schwiegen viele sonst aufrechte Demokraten. Denn im Stillen fürchten sie, dass das Militär Recht haben könnte und die Politiker die islamische Gefahr tatsächlich bagatellisieren. Im Unterschied zu Generälen müssen Politiker in einer Demokratie sich ab und zu Wahlen stellen - und gläubige Muslime sind eben auch Wähler.

Doch nicht nur in der Türkei selbst gab es kaum Proteste gegen Kivrikoglu - auch im Ausland wurde und wird der Auftritt der Militärs nicht kritisiert. Das ist kein Zufall, sondern hat mit dem Gegenstand der Auseinandersetzung zu tun. Für Islamisten, glaubt man im Westen, muss man sich nicht stark machen.

Es gibt ein bezeichnendes Indiz für diese These: Seit die Türkei im Dezember EU-Beitrittskandidat wurde, versäumt es kein Minister aus einem EU-Land bei einem Türkeibesuch auch im Menschrechtsverein IHD vorbeizuschauen. Das ist gut so, aber es gibt in der Türkei zwei landesweite Menschrechtsorganisationen. Neben dem IHD, der sich hauptsächlich um die Opfer des Bürgerkrieges im Südosten des Landes gekümmert hat, gibt es "Mazlum Der", einen Verein, der die Übergriffe gegen Islamisten bearbeitet. Bislang hat noch kein westlicher Minister bei dieser Menschenrechtsorganisation vorbeigeschaut.

So banal es sich anhört, Demokratie und Menschenrechte sind unteilbar, und das gilt auch für Islamisten. Das türkische Militär hat in den letzten 20 Jahren eine Menge gelernt, vor allem, wie man politische Entscheidungen erzwingt, ohne dafür putschen zu müssen. Die so genannte islamische Gefahr ist für die Generäle genau das Richtige, um sich auch im Westen als Hüter einer "wehrhaften Demokratie" zu präsentieren.

Die bisherigen Gespräche zwichen Brüssel und Ankara lassen noch nicht erkennen, ob in den Dokumenten zur Beitrittspartnerschaft auf diese Bestrebungen der türkischen Armee Rücksicht genommen wird. Die Militärs als Notbremse gegen den Islamismus und als Bewacher der Demokratie zu akzeptieren wäre jedoch fatal.

Eine stabile Demokratie in der Türkei wird es nur geben, wenn die Mehrheit der gläubigen Muslime dazugehört - und wenn der politische Islam nicht zur Systemalternative hochstilisiert wird, wie es das türkische Militär zur Zeit tut. JÜRGEN GOTTSCHLICH

Hinweise: Die Armee benutzt die "islamische Gefahr", um sich als Hüter der "wehrhaften Demokratie" zu zeigen Für die europäische Politik wäre es fatal, das Militär als Notbremse gegen die Islamisten zu akzeptieren

Foto-Text: Jürgen Gottschlich ist Korrespondent der taz in Istanbul. Er war 1979 Mitbegründer dieser Zeitung, später Inlandsredakteur und in den Neunzigerjahren einer ihrer Chefredakteure. Er schreibt regelmäßig für die Debattenseite der taz.