junge Welt, 19.09.2000 Kurden - ein geschändetes Volk Irakisch-Kurdistan: Innere Konflikte und äußere Bedrohung. Von Erhard Thiemann (Teil 1) Angesichts der offensichtlichen Planungen der USA, noch vor den Präsidentschaftswahlen einen massiven Militärschlag gegen Irak zu führen, gewinnt das Schicksal der Kurden in dieser Region wieder an internationalem Interesse. Das Territorium des kurdischen Volkes (etwa 35 Millionen Menschen) wurde mit dem Verfall des Osmanischen Reiches nach dem Sykes-Picot-Abkommen im Jahre 1916 unter den vier Staaten Türkei, lran, Irak und Syrien aufgeteilt. Im Irak siedeln die Kurden (über fünf Millionen Menschen) vor allem in den nördlichen Provinzen Dohuk, Arbil, Sulaimania und Kirkuk (Südkurdistan). Politische Eigenständigkeitsbestrebungen unterschiedlichen Grades und unterschiedlicher Intensität der kurdischen Parteien wurden auch im Irak, vor allem unter der seit 1968 herrschenden Baath-Partei, niemals akzeptiert. Dabei hatte die Politik der Kurden-Parteien im Irak bisher nicht mehr und nicht weniger als eine politische Autonomie innerhalb des irakischen Staatswesens zum Ziel. In den 70er Jahren erfolgte eine verstärkte Bekämpfung der Kurden durch die irakische Regierung. Obwohl der Konflikt offiziell durch das irakisch- iranische Abkommen vom 5. April 1975 durch die Gewährung eines »Autonomiestatus« scheinbar gelöst wurde, gingen die Auseinandersetzungen weiter. In den 80er Jahren, vor allem im Zusammenhang mit dem irakisch-iranischen Krieg 1980 bis 1988, nahm die Repressionspolitik Bagdads genozidalen Charakter an. Während des Krieges wurden große Teile des Siedlungsgebietes der Kurden im Nordirak abgesperrt, vermint und zerstört. In der Zeit von 1973 bis 1989 wurden zahllose Städte und Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Viele Menschen, vor allem Männer - schätzungsweise 400 000 - wurden verschleppt. Ihren Höhepunkt fand das Vorgehen der irakischen Zentralregierung gegen die Kurden in der Anfal-Offensive des irakischen Militärs von Februar bis September 1988, in deren Verlauf rund 75 Prozent der gesamten dörflichen Gemeinden und Strukturen zerstört wurden. (Die Bezeichnung »Anfal« bezieht sich historisch auf die gewaltsame Islamisierung des kurdischen Territoriums durch das arabische Khalifat.) Die kurdische Bevölkerung der zerstörten Dörfer und Städte wurde zu Hunderttausenden in riesige Umsiedlungslager und »Kollektivstädte« deportiert. Das Schicksal von etwa 180 000 Menschen ist bislang immer noch nicht geklärt. Als Gipfel des Vernichtungsfeldzuges gegen die Kurden unternahm die irakische Armee am 16. März 1988 einen barbarischen Giftgasangriff auf die Stadt Halabja. Rund 5 000 Menschen verloren auf der Stelle ihr Leben, zirka 7 000 in der Folgezeit. Bis zu 10 000 Menschen starben auf der Flucht. Viele Überlebende leiden bis heute an gesundheitlichen Schäden. »Save Haven« - eine Schutzzone für Kurden? Nach dem Sieg der westalliierten Mächte über den Irak im Golfkrieg 1990/91 und dem Waffenstillstand von Februar 1991 erhoben sich die Kurden Nordiraks - wie auch die Schiiten im Süden des Landes - im März 1991 in einem Volksaufstand gegen Iraks Präsidenten Saddam Hussein. Ermuntert auch durch den US-amerikanischen Präsidenten, war die Erhebung zunächst durchaus erfolgreich. Doch nach dem Einsatz von Hubschraubern, die nicht unter das UN-Embargo nach dem Golfkrieg fielen, wurden die Aufstände mit äußerster Brutalität niedergeschlagen. Die Kurden, die auf internationale Hilfe hofften, wurden enttäuscht. Dies bewirkte eine Massenflucht von rund zwei Millionen Menschen in Richtung türkischer und iranischer Grenze; mehr als 20 000 Menschen starben auf der Flucht vor allem durch Minenexplosionen. Erst zu diesem Zeitpunkt schreckte die »internationale Gemeinschaft« auf. Die Operation »Provide Comfort« der Alliierten des Golfkrieges begann, um den kurdischen Flüchtlingen Schutz zu gewähren. Im Norden des Irak wurde bis zum 36. Breitengrad von den Vereinten Nationen auf der Basis der Sicherheitsresolution 688 vom 5. April 1991 eine Schutz- und Flugverbotszone (»Save Haven«) eingerichtet und den Flüchtlingen sichere Rückkehr unter Geleit alliierter Soldaten versprochen. Die irakische Armee sah sich gezwungen, sich aus diesen Zonen zurückzuziehen. Sie verließ daraufhin auch kurdische Gebiete, die nicht von den Alliierten protektioniert wurden (Provinz Sulaimania, Teile der Provinz Kirkuk), während sie in anderen Teilen Irakisch- Kurdistans (größter Teil der Provinz Kirkuk, Teile der Provinz Mosul, Erdölgebiete) ihre Präsenz behielt. Die Kurden nutzten in dieser Zeit die Chance, um selbstverwaltete Organe aufzubauen. Völkerrechtlich schien eine kritische und ungeklärte Situation zu entstehen, die die Kurden mit Wahlen zu einem Regionalparlament (Mai 1992) in den Gebieten, aus denen sich das irakische Militär zurückzog, für sich zu klären versuchte. Bei diesen Wahlen erhielten die traditionell einflußreichsten kurdischen Parteien, die Kurdische Demokratische Partei (KDP) unter Führung von Masud Barzani und die Patriotische Union Kurdistans (PUK) unter Führung von Jalal Talabani, jeweils 50 Parlamentssitze. Die Assyrer (vorwiegend Christen) haben, zusätzlich über die Assyrische Demokratische Bewegung, fünf Sitze erhalten. In der von KDP und PUK dominierten Koalitionsregierung (Juli 1992) erhielten auch die Assyrer wie auch die Kommunisten, Islamisten und andere Kräfte je einen Ministerposten. Trotz des erklärten internationalen Schutzes, der Wahlen und der Bildung einer eigenständigen Regierung blieben der Status des Gebietes und die Situation grundsätzlich unklar, wurde Irakisch-Kurdistan einmal als eigenständiges Gebiet und einmal als integraler Bestandteil Iraks angesehen; faktisch schien ein »Machtvakuum« zu herrschen. Es wurden keine Schritte unternommen, die kurdische Selbstverwaltung und »Autonomie« international anzuerkennen - was völkerrechtlich eine durchaus diffizile Angelegenheit wäre. Souveränität Iraks nicht in Frage gestellt Der Status von Irakisch-Kurdistan und damit auch der Charakter der »Schutzzone« wird vielfach unterschiedlich und widersprüchlich eingeschätzt und interpretiert. Fakt ist, daß es keine eindeutigen rechtlichen und völkerrechtlichen Regelungen und Verbindlichkeiten für solche Gebiete gibt. Völkerrechtlich gibt es in der maßgeblichen UN- Sicherheitsratsresolution 688 lediglich den Bezug auf eine Schutzverpflichtung gegenüber den Flüchtlingen. Sie stellt in keiner Weise die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität Iraks in Frage, ja bekräftigt sie sogar. Der grundsätzliche rechtliche und internationale Status der Region als integraler Bestandteil der Republik Irak hat sich demzufolge nicht verändert. Die kurdischen Gebiete in Nordirak haben zu keiner Zeit jemals internationale Anerkennung gefunden. Es gibt weder eine eigene kurdische Verfassung noch sonst eine neue Rechtsprechung, faktisch nur den Umstand, daß jetzt Bürger kurdischer Nationalität Verwaltungsbehörden besetzen. Die grundsätzliche Bindung an den irakischen Staat wurde damit zu keinem Zeitpunkt aufgehoben.
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