junge Welt, 20.09.2000 Bruderzwist und Spaltung Irakisch-Kurdistan: Innere Konflikte und äußere Bedrohung. Von Erhard Thiemann (Teil 2) Der Versuch, nach den Wahlen 1992 in den nordirakischen UN-Schutzzonen kurdische Verwaltungsstrukturen aufzubauen und zu festigen sowie die eingeleiteten Demokratisierungstendenzen zu stabilisieren, scheiterte an internen und externen Faktoren. Die neue Situation barg in sich ein enormes soziales, politisches und militärisches Konfliktpotential. Tiefgreifende innere Widersprüche wurden durch äußere Einflüsse und Einmischung verschärft, so daß es seit Mai 1994 zu lang andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den zwei führenden kurdischen Parteien im Nordirak, KDP und PUK, kam, Der innerkurdische Konflikt, in dessen Ergebnis erneut Hunderttausende Flüchtlinge unterwegs waren, war prägend für die heutige Konstitution der Herrschaftsverhältnisse und Machtapparate der jeweiligen Parteien. In Folge des Konfliktes wurde die Region in zwei getrennte Einflußzonen gespalten. Die nördlichen Provinzen Dohuk und Arbil werden von der KDP, und die südliche Provinz Sulaimania mit Teilen der Provinz Kirkuk von der PUK in faktischer Alleinherrschaft mit getrennten Verwaltungs- und Regierungsstrukturen kontrolliert. Ende August 1996 griffen irakische Truppen als Bündnispartner der KDP und auf deren Hilfegesuch in den Bürgerkrieg ein, wobei die Hauptorte Arbil und Sulaimania besetzt wurden. Der Einmarsch der irakischen Armee am 31. August 1996 stellte die massivste Demonstration der Saddam- Regierung dar, den legitimierten Herrschafts- und Hoheitsanspruch auf Irakisch-Kurdistan umzusetzen und das Land wieder vollständig zu kontrollieren. Großangelegte geheimdienstliche Operationen führten zu massenhaften Verhaftungen und teilweise sofortigen Hinrichtungen von irakischen Oppositionellen und nicht zuletzt zu neuen Fluchtbewegungen. Der Einmarsch der irakischen Truppen und die fortgesetzten militärischen Übergriffe durch Irak zeigen augenscheinlich, wie unsicher der Status der Region ist, welche Stabilität und welchen Wert die vielpropagierte formale kurdische Selbstverwaltung hat und daß der Irak nach wie vor eigentlicher Hausherr ist. Die Situation blieb permanent gespannt - auch nach vorübergehenden Rückzügen irakischer Armeekräfte. Dafür sind nicht zuletzt regelmäßige Anschlagserien vor allem irakischer Geheimdienste verantwortlich. Dazu kommt, daß insbesondere die Politik der Nachbarstaaten Türkei und Iran den Interessen lrakisch-Kurdistans widersprach und widerspricht. Zahllose militärische Übergriffe und Interventionen, subversive Tätigkeiten der Geheimdienste sowie Behinderungen des Grenzverkehrs stören massiv den Wiederaufbau und schüren vor allem die internen Konflikte. Die türkische Armee führt bereits seit 1994 in regelmäßigen Abständen großangelegte Militäroperationen in Irakisch- Kurdistan durch, um dort ansässige Stellungen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) zu bekämpfen. Im Jahre 1997 kam es z. B. zu einem Einmarsch von über 50 000 Soldaten, die bis zu 200 Kilometer ins Land eindrangen. Zuletzt bombardierten türkische Kampfflugzeuge am 15. August diesen Jahres - offiziell von türkischer Seite bestätigt - erneut zivile Ziele in den kurdischen Gebieten Nordiraks, wobei 41 Menschen, in der Mehrzahl Frauen und Kinder, getötet und 57 verletzt wurden. Die Türkei geht davon aus, daß sich zahllose PKK-Kämpfer in den kurdischen Nordirak zurückzogen, nachdem die PKK im September 1999 die Absicht verkündete, den bewaffneten Kampf gegen die türkische Regierung einzustellen und eine friedliche Lösung der Kurdenfrage anzustreben. Das Abkommen von Washington Eine scheinbar friedvolle Perspektive tat sich im Jahre 1998 auf. Unter Vermittlung der USA unterzeichneten die Generalsekretäre von KDP und PUK, Masud Barzani und Jalal Talabani, am 17. August 1998 in Washington ein Abkommen, mit dem der seit Ende 1997 eingetretene Waffenstillstand bekräftigt und die Absicht zur Herstellung eines dauerhaften Friedens vereinbart wurde. Für 1999 wurden Parlamentswahlen in der gesamten Region festgelegt. Es sollten Maßnahmen zur Normalisierung der Lage ergriffen werden (Austausch von Gefangenen, gemeinsame Kontrolle der Zolleinnahmen, Aufbau einer gemeinsamen Verwaltungsstruktur, Reiseverkehr u. a.). Ein regelmäßig tagendes, gemeinsames Hohes Koordinierungskomitee (HCC) sollte praktische Fragen der Normalisierung regeln und die Abstimmung vorbereiten. Gegenüber der irakischen Regierung wurde eine gemeinsame Haltung gefunden, indem man sich insbesondere darauf verständigte, alle die Menschenrechte betreffenden Punkte der UNO-Resolution 688 dringend einzufordern. Die Umsetzung des Abkommens erwies sich in der Folgezeit jedoch als außerordentlich konfliktreich und schwierig. Militärische Auseinandersetzungen zwischen beiden Parteien sind seitdem zwar nicht wieder ausgebrochen, die Kluft zwischen beiden Parteien ist jedoch nach wie vor tief. Der Konflikt wurde in der Tat mit dem Waffenstillstand nicht beendet. Die Rivalitäten bestehen fort; auch erneute bewaffnete Zusammenstöße können nicht ausgeschlossen werden. Es wurde bisher nicht eine einzige der festgelegten Maßnahmen des Washingtoner Abkommens realisiert. Ständige verbale Anfeindungen, gegenseitige Schuldzuweisungen und Diffamierungen wechseln mit vorübergehenden Perioden von Gesprächsbereitschaft und auch Zusammenkünften. So konnten denn auch vor allem die vorgesehenen allgemeinen Wahlen bisher nicht durchgeführt werden. Es wurden auch keine praktischen Schritte in dieser Hinsicht unternommen. Statt dessen gab es z. B. im PUK-Gebiet im Februar 2000 zum ersten Mal Kommunalwahlen. Auch läßt der vollständige Austausch von Gefangenen und die Rückführung von Flüchtlingen auf sich warten. Ernüchternde Bilanz der Verträge Eine funktionsfähige einheitliche Selbstverwaltung von lrakisch-Kurdistan gibt es bis heute nicht. Im Gegenteil, die beiden Parteien haben in ihrem territorialen Einflußgebiet eigene Verwaltungs- und Machtstrukturen etabliert, die keinen unabhängigen Kontrollinstanzen unterworfen sind. Die geschaffenen »parteiabhängigen« Instanzen und Behörden reglementieren dabei nicht nur weite Bereiche des täglichen Lebens, sondern kanalisieren und steuern auch die internationalen Hilfslieferungen, kontrollieren die Grenze und haben polizeiliche und militärische Zuständigkeiten. Für den Aufbau von parteiunabhängigen, demokratischen Strukturen existiert aus diesem Grunde nur ein sehr eingeengter Spielraum; zwangsläufig wäre dies mit einem gravierenden Machtverlust der beiden führenden Parteien in ihrem jeweiligen Einflußgebiet verbunden. Allerdings finden von Zeit zu Zeit Sitzungen des Hohen Koordinierungskomitees statt - in der Regel jedoch ohne substantielle Ergebnisse. Von relativer Bedeutung waren die Washingtoner Gespräche zwischen Delegationen der PUK und KDP vom 16. bis 25. Juni 1999 unter Schirmherrschaft des US-Außenministeriums, um über die Umsetzung des Washingtoner Abkommens von 1998 zu beraten. Diese Gespräche verliefen nach Angaben der Parteien in einer angespannten, jedoch insgesamt positiven Atmosphäre. Sie hätten dazu beigetragen, die Position der jeweils anderen Partei besser zu verstehen und nach Lösungen für die anstehenden Fragen zu suchen. Es wurde über die Einstellung, der gegenseitigen Pressekampagnen, die Haltung zur PKK, die Eröffnung von Vertretungsbüros im Gebiet der jeweils anderen Partei, die Rückkehr von Vertriebenen, die Aufteilung von Einnahmen und anderes gesprochen. Auf der anderen Seite kann nicht verschwiegen werden, daß keinerlei konkrete Schritte zur Umsetzung der ursprünglich im Abkommen getroffenen Vereinbarungen unternommen wurden, geschweige denn, daß die Kernfragen zur demokratischen Überwindung des Machtkampfes zwischen PUK und KDP gelöst werden konnten. Infolgedessen ging man auch ohne jegliche Abschlußerklärung auseinander. Hoffnungsschimmer waren lediglich die Absichtserklärungen, daß am Abkommen von Washington festgehalten werden solle und die anstehenden Probleme zwischen PUK und KDP mit friedlichen Mitteln gelöst werden müßten. Das Ziel einer politischen und sicherheitspolitischen Normalisierung der Lage in Irakisch-Kurdistan sowie der Bildung einer vereinigten gemeinsamen Verwaltung mit Neuwahlen bleibe bestehen.
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