junge Welt, 21.09.2000 Fremdbestimmte Entwicklung Irakisch-Kurdistan: Innere Konflikte und äußere Bedrohung. Von Erhard Thiemann (Teil 3) Die wirtschaftliche Lage der Kurdengebiete im Nordirak ist durch eine Reihe von Besonderheiten geprägt. So führte die langjährige, systematische Politik der irakischen Regierung zur zielgerichteten Veränderung der Wirtschaftsstrukturen im kurdischen Landesteil. In deren Folge kam es zu großflächigen Umsiedlungen der ländlichen kurdischen Bevölkerung in künstlich geschaffene städtische Ansiedlungen (mujamm'at), im Grunde genommen riesigen Sammellagerstätten. Dies führte in großem Maße zu einer verhängnisvollen Zerstörung der ländlichen Dorfstrukturen, sozialer Entwurzelung der Landbevölkerung, einem weitgehenden Zusammenbruch der gesamten landwirtschaftlichen Produktion und massenhafter Abhängigkeit dieser Bevölkerungsteile von staatlich verteilten Nahrungsmitteln bereits seit Anfang der 80er Jahre. Als »Kornkammer Iraks« hat Irakisch-Kurdistan damit seit langem aufgehört zu existieren. Dazu kommen die direkten Zerstörungen infolge von Krieg (1980 bis 1988 Krieg zwischen Iran und Irak), den bürgerkriegsähnlichen militärischen Auseinandersetzungen zwischen den kurdischen Parteien (1994 bis Ende 1997), fortgesetzte schwerwiegende militärische Operationen der Saddam-Regierung gegen das kurdische Volk (darunter 1988 die erwähnte Anfal-Operation mit dem Giftgasangriff gegen die Stadt Halbja). Diese Faktoren führten dazu, daß die Infrastruktur des Landes zu etwa 80 Prozent zerstört wurde (Gebäude, Schulen, Krankenhäuser, Kultureinrichtungen, Straßen, Brücken, Elektrizitäts-, Wasserversorgung, Telefonnetz u. a.). »Oil for Food« - Tropfen auf den heißen Stein Auch die nationale und internationale Embargopolitik als direkte Folge des Golfkrieges von 1990/91 traf die kurdische Bevölkerung schwer. Dazu gehört das von Saddam Hussein gegenüber Irakisch-Kurdistan verhängte Embargo nach dem Kurdenaufstand von März 1991 und der Etablierung von Selbstverwaltungsorganen sowie die bis 1997 von der UNO über den gesamten Irak verhängten Sanktionen (UN- Sicherheitsresolution 661). Der entstandenen humanitären Katastrophe begegnete der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 986, die das Programm »Oil for Food« beinhaltet. Danach konnte die irakische Regierung Erdöl im Wert von zwei Milliarden US-Dollar innerhalb von sechs Monaten verkaufen, um dafür Importe zur Lösung der humanitären Probleme zu tätigen. In einem »Memorandum of Understanding« von 20. Mai 1996 wurden Fragen der praktischen Umsetzung des Programms geregelt. Die Aufteilung der Gelder erfolgt zu 53 Prozent für Zentralirak, 13 Prozent für Irakisch-Kurdistan, 30 Prozent für Kriegsreparationen an Kuwait, 2,2 Prozent für die UN- Verwaltung und 0,8 Prozent für UN-Schutz- und Kontrollkräfte (UNSCOM) auf Konten, auf die die Saddam-Regierung keinen Zugriff hat. Im Jahre 1998 wurde durch die UNO anerkannt, daß die bereitgestellten Mittel nicht ausreichend sind, um vor allem die Probleme in der Nahrungsmittelversorgung zu lösen. Mit der UN- Sicherheitsratsresolution 1143 wurde daraufhin der Betrag auf 5,2 Milliarden US-Dollar bei Beibehaltung der Prozentanteile aufgestockt. Das Programm kann die Bedürfnisse der Region bei weitem nicht decken und schon gar nicht die wirtschaftlichen Zerwürfnisse kurz- oder mittelfristig beseitigen. Vor allem erfordert die Rückführung der Landbevölkerung und Bauern in ihre ursprünglichen Siedlungsgebiete einen immensen Aufwand. Die Durchsetzung des Programms wird dabei auch in Irakisch-Kurdistan durch verschiedene Unterorganisationen der UNO (FAO, UNESCO, WHO, UNICEF u.a.) in Zusammenarbeit mit den regionalen Behörden und NGOs ermöglicht. Bereits auf der Grundlage der UN- Sicherheitsratsresolution 688 von 1991 wurde humanitären Hilfsorganisationen gestattet, in der Region für Wiederaufbauhilfe tätig zu sein. Embargo als Basis der Schattenwirtschaft Äußerlich betrachtet, scheint es in Irak eine positive wirtschaftliche Entwicklung zu geben. Insbesondere der Bausektor profitiert, und die Infrastruktur wurde wesentlich ausgebaut. Die materiellen Verhältnisse der Menschen haben sich in der Tat verbessert. Fast drei Viertel der insgesamt rund vier Millionen Einwohner in Irakisch-Kurdistan bekommt nahezu kostenlos und unabhängig vom sozialen Status die Grundnahrungsmittel regelmäßig über das World Food Program der UNO zur Verfügung gestellt. Damit wird über das »Oil-for-Food«-Programm die Grundversorgung der Bevölkerung abgesichert. Was es darüber hinaus zu verteilen gibt, sind vor allem die Zolleinnahmen aus dem illegalen Warenverkehr (einschließlich Öl- und Treibstoffexport) durch die Umgehung des Embargos von und nach der Türkei. Die Grenze zur Türkei ist damit von außerordentlicher Bedeutung und wird von der KDP kontrolliert. Die Einnahmen aus diesem Warenverkehr sind deren wichtigste Einkommensquelle und entscheidender Bestandteil des Disputs mit der PUK, die daran nicht beteiligt ist. Die PUK dagegen kontrolliert den weniger bedeutsamen Grenzhandel zum Iran. Unter diesen Bedingungen hat sich eine eigenartige Schattenwirtschaft herausgebildet, die die Gesamtlage zunehmend bestimmt und wesentlich durch Devisenhandel, Schmuggel und Korruption gekennzeichnet ist. Die Sanktions- und Embargopolitik brachte es faktisch mit sich, daß die Kontrolle über den alles entscheidenden Waren- und Hilfsgüterverkehr (sowohl über die UNO-Hilfsprogramme als auch illegal mit der Türkei und Iran) darüber bestimmt, wer das Land wirtschaftlich und politisch beherrscht. In diesem System spielen KDP und PUK die wichtigste Rolle und streben die Kontrolle über die lukrativen Geschäfte an. Nicht zufällig äußern sich ihre Rivalitäten und Differenzen als Verteilungskampf um Einnahmen (d. h. im wesentlichen der Zolleinnahmen aus dem Grenzverkehr) sowie Anteilen an internationalen Hilfsprogrammen. Auf der anderen Seite wird der Wiederaufbau des Landes grundsätzlich durch das Embargo gebremst. Der Import von Waren, vor allem Investitionsgütern und Ersatzteilen, zur Instandsetzung der zerstörten Betriebe und Infrastruktureinrichtungen ist faktisch untersagt. Das Land ist infolgedessen praktisch deindustrialisiert und ohne eine nennenswerte eigene Warenproduktion. Bilaterale staatliche Entwicklungshilfeprogramme indes sind auf Grund des rechtlichen und internationalen Status der Region (als Bestandteil der Republik Irak) nicht möglich. Daran ändert auch die momentane Abwesenheit zentralirakischer Verwaltungsstrukturen und ihre Einnahme durch Vertreter der kurdischen Parteien grundsätzlich nichts. Die ökonomische und soziale Ordnung Irakisch-Kurdistans, die sich vor dem Hintergrund der Sanktions- und Embargopolitik und des etablierten internationalen Hilfssystems herausgebildet hat, knüpft strukturell und von seinen Grundlagen her unmittelbar an das repressive und loyalitätsabhängige Wohlfahrtssystem an, das die irakische Führung bereits seit den 70er Jahren auf der Basis der Erdöl- Einnahmen aufbaute. Nur ist das gesamte wirtschaftliche Leben heute abhängig vom Ausland und fremdbestimmt. Eine eigene, sich selbsttragende Wirtschaft gibt es nicht. Auch die vielen Hilfsprojekte waren und sind zu wenig Hilfe zur Selbsthilfe und haben Abhängigkeiten geschaffen. Und ebenso sind die Menschen - trotz ihrer durchaus insgesamt verbesserten materiellen Lebenslage - über die umfassende Nahrungsmittelhilfe unmittelbar abhängig vom Wohlwollen des Auslands. Mangels wirtschaftlicher Alternativen sind sie vielfach zu Almosenempfängern abgestempelt worden.
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