junge Welt, 21.09.2000 Tödliches Schmierentheater Bericht der Bundesregierung: Hauptempfängerland deutscher Rüstungsexporte ist die Türkei Am Mittwoch veröffentlichte die Bundesregierung zum ersten Mal einen Bericht über ihre Rüstungsexporte im zurückliegenden Jahr. »Mit dem Rüstungsexportbericht 1999 schafft die Bundesregierung nie dagewesene Transparenz ihrer Rüstungsexportpolitik«, kommentierte Wirtschaftsminister Werner Müller (parteilos). Insgesamt wurden dem Bericht zufolge in der Bundesrepublik 1999 Anträge auf die Ausfuhr von Rüstungsgütern im Volumen von 5,9 Milliarden Mark genehmigt. Hauptempfängerland deutscher Rüstungsgüter ist laut dem Bericht die Türkei. Demnach gingen überwiegend Kriegsschiffe und weitere marinetechnische Ausrüstung im Wert von 1,9 Milliarden Mark an den NATO-Partner. Müller verwies anläßlich der Vorlage des Berichts auf die Neufassung der Richtlinien für deutsche Rüstungsexporte. Diese Richtlinien waren im Januar beschlossen worden, nachdem es wegen der Lieferung eines Leopard-Testpanzers an die Türkei zu einer »schweren Koalitionskrise« gekommen sei. Die Richtlinien verdeutlichten nach Ansicht Müllers »die restriktive Genehmigungspolitik der Bundesregierung und drücken die besondere Bedeutung aus, die die Bundesregierung der Menschenrechtssituation im jeweiligen Empfängerland beimißt«. Dem können Kriegsgegner wohl kaum zustimmen. Die Kampagne »Produzieren für das Leben - Rüstungsexporte stoppen« fordert Kanzler Gerhard Schröder in einer bundesweiten Briefaktion auf, die kürzlich vom Bundessicherheitsrat erteilte Liefergenehmigung für eine Munitionsfabrik an die Türkei zu widerrufen. »Die Regierung inszeniert in dieser Frage ein koalitionsinternes Schmierentheater«, erklärte Holger Rothbauer, Vorsitzender der von christlichen Friedensgruppen wie »Pax Christi«, »Versöhnungsbund« und »Ohne Rüstung Leben« getragenen Kampagne. Die angeblich zwingende Angleichung an das NATO-Munitionskaliber sei keineswegs notwendig, argumentierte Rothbauer. Wenn die Leopard-II-Panzer aus Menschenrechtserwägungen nicht geliefert werden sollen, dann dürfte auch diese Munitionsfabrik durch Fritz Werner in Geisenheim nicht exportiert werden. Nach Angaben Rothbauers lehnt die Mehrheit der Bevölkerung in der BRD Waffenlieferungen an die Türkei zum gegenwärtigen Zeitpunkt ab: »Viele haben gehofft, daß Rot-Grün einen echten Kurswechsel hin zu einer restriktiven Rüstungsexportpolitik bedeutet. Diese Hoffnung wurde nachhaltig enttäuscht.« Die Kampagne gegen Rüstungsexport sieht in der deutschen Beteiligung an diesem 90-Millionen-Mark- Rüstungsprojekt den Beweis, daß im Zweifel auch Rot-Grün für kurzfristige wirtschaftliche Vorteile optiert. Die Kosten dieser Entscheidung tragen andere, so die Kampagne. Bei jüngst bekanntgewordenen Angriffen der türkischen Luftwaffe auf kurdische Dörfer im Nordirak haben ihren Angaben zufolge über 50 Zivilisten ihr Leben verloren. Am kommenden Sonnabend werden Friedensgruppen aus der BRD in Berlin eine Halbzeitbilanz der rot-grünen Außen- und Sicherheitspolitik ziehen. Um 13.30 Uhr werden sie vor dem Außenministerium Unterschriften übergeben und mit einer Panzerattrappe auch gegen Waffenexporte in die Türkei demonstrieren. Anke Fuchs Protestbriefe an Bundeskanzler Schröder gibt es bei der Kampagne »Produzieren für das Leben - Rüstungsexporte stoppen«, Bismarckring 3, 65183 Wiesbaden, Tel.: 0611/9102350, Fax: 0611/371838
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