junge Welt, 22.09.2000 Ohne Rücksicht auf Verluste Flüchtlingsorganisationen prangern Abschiebepraxis an. Von Reimar Paul Ist Antifa schon wieder out? Während Politiker wie Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) oder die Ausländerbeaufragte Marieluise Beck (Grüne) noch einen humanen Umgang mit Opfern von rassistischer Gewalt und Flüchtlingen anmahnen, beklagen Niedersachsens Flüchtlingsrat und Pro Asyl bereits eine zunehmende »Brutalisierung« der Abschiebepraxis in Deutschland. Selbst schwerkranke Patienten würden abgeschoben, erklärten die beiden Organisationen am Donnerstag. So will nach Recherchen des Flüchtlingsrates der niedersächsische Landkreis Gifhorn einen schwerkranken Dialysepatienten und seine Familie in den Libanon abschieben. Der seit 1992 in Deutschland lebende Mann müsse sich dreimal wöchentlich für fünf Stunden einer Behandlung unterziehen. »Ein Abbruch der Behandlung würde nach Aussage eines Facharztes mit Sicherheit den Tod des Patienten innerhalb kurzer Zeit zur Folge haben«, erklärte Kai Weber vom Flüchtlingsrat. Nach seinen Worten ist eine weitere medizinische Versorgung des Mannes im Libanon ohne Hilfe von außen kaum gewährleistet. Die Familie habe in dem Land keine Verwandten oder sonstigen sozialen Bindungen. Sie sei auch nicht in der Lage, die zusätzlich benötigten teuren Medikamente zu kaufen. Nach einem vom Flüchtlingsrat zitierten Gutachten ist der Libanese »als normal reisender Flugpassagier nicht als flugreisetauglich anzusehen«. Um die Abschiebung dennoch zu realisieren, wolle das zuständige Amt den Mann deshalb in Begleitung eines Arztes auf der Trage transportieren. Für ein Jahr will die Behörde dem Flüchtling Medikamente mitgeben. In Beantwortung einer Petition des Göttinger Rechtsanwaltes Bernd Waldmann- Stocker erklärte das Innenministerium in Hannover, die »Rückführung« sei »unter ärztlicher Überwachung und liegend möglich«. Die Landesregierung könne die Abschiebung daher nicht aussetzen. In einem anderen Fall soll ein unter schweren Asthma- Anfällen leidender Kurde vom Landkreis Hildesheim abgeschoben werden. Das Bundesamt für die Anerkennung von Flüchtlingen hatte die Abschiebung zunächst untersagt, weil sich der Kurde in der Türkei nicht die notwendigen Arzneien beschaffen könne und somit Lebensgefahr zu befürchten sei. Als die Ausländerbehörde des Landkreises jedoch erklärte, sie werde die Medikamentenversorgung des Kurden über die BRD-Botschaft in Ankara für sechs Monate sicherstellen, sieht nun auch das Bundesamt kein Abschiebungshindernis mehr. Einen lebenslangen Anspruch auf Schutz vor einer existentiellen Gefährdung in seinem Heimatland könne der Betroffene nicht für sich in Anspruch nehmen. Pro-Asyl-Sprecher Heiko Kauffmann verurteilte das Vorgehen der Landkreise als »behördliche Mißachtung der Menschenwürde und staatliche Gewalt gegen Flüchtlinge, die Rassismus fördert«. Flüchtlingsrat und Pro Asyl kündigten an, einen Bericht über diese Fälle an die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Wien weiterzureichen
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