Neue Zürcher Zeitung, 22.09.2000 Missstände im türkischen Strafvollzug Harte Kritik an den Reformplänen des Justizministers Das türkische Justizministerium will mit einer tief greifenden Reform die chronischen Missstände im Strafvollzug beheben. Vorgeschlagen wird ein neuer Gefängnistyp, der den Häftlingen mehr individuellen Komfort bieten soll. Juristen und Häftlinge wittern dahinter aber ein Manöver zur vollständigen Unterwerfung politischer Dissidenten. it. Istanbul, im September Der türkische Justizminister Hikmet Sami Türk hat unlängst das Parlament dazu aufgefordert, ein von ihm ausgearbeitetes Reformpaket für das Strafvollzugssystem noch in dieser Legislaturperiode mit höchster Priorität zu behandeln. Die Situation in den türkischen Gefängnissen sei ein Albtraum, sagte Türk. Nie zuvor habe es in der Geschichte der Republik so viele Häftlinge gegeben. Mafiabosse und Terroristenchefs hätten einen Grossteil der überfüllten Anstalten in ihre Macht gebracht. Mit insgesamt 72 523 Insassen (Stand vom Juni) sind die türkischen Gefängnisse in der Tat an die Grenze ihrer Kapazität gestossen. Jeden Monat kommen laut Angaben des Justizministeriums 400 neue Inhaftierte hinzu. Viele der Inhaftierten werden in Zellen gepfercht, die ursprünglich für 40 Häftlinge geplant waren, heute aber oft mit gegen 100 Insassen belegt sind. Bewaffnete Banden In manchen Haftanstalten liefern sich regelmässig Banden in den Korridoren blutige Kämpfe mit Waffen, die willige Wächter gegen Entgelt in die Anstalten geschmuggelt haben. Der rechtsnationalistische Drogenbaron Alaattin Cakici soll beispielsweise aus seiner Zelle im Istanbuler Gefängnis Kartal über sein geschmuggeltes Natel Abrechnungen gegen seine Konkurrenten auch ausserhalb der Gefängnismauer verordnet haben. Cakicis Name tauchte im Zuge der Enthüllungen rund um den Susurluk-Skandal auf. Damals wurde die Verfilzung zwischen dem organisierten Verbrechen, der rechtsextremistischen Bewegung sowie höheren Regierungsbeamten publik. Cakici war in Frankreich festgenommen und auf eigenen Wunsch an die Türkei ausgeliefert worden. Seither hat er bereits einige Male für Erheiterung gesorgt, als bekannt wurde, dass er sich mit seinem Natel bei berühmten Restaurants Menus ins Gefängnis bestellt hatte und für eine routinemässige Gesundheitskontrolle in eine Privatklinik übergeführt worden war. Die grösste Sorge für den Justizminister sind aber die 11 187 politischen Gefangenen. Sie sind von der Aussenwelt abgeschirmt und rücken nur dann ins Rampenlicht, wenn Berichte über Folter oder Häftlingsaufstände nach aussen dringen. Politische Gefangene leben nach Parteizugehörigkeit getrennt in Grosszellen zusammen, wo Parteidisziplin und Indoktrination den Alltag bestimmen. Der Dominanz der Mafiabosse und Terroristen müsse endlich Einhalt geboten werden, erklärte der Justizminister Anfang Sommer, als er sein ambitiöses Reformpaket bekannt machte. Dazu gehört ein Amnestiegesetz. Hunderte von Kleinkriminellen sollen freigelassen werden, um den Druck auf die überbelegten Anstalten zu vermindern. Tragende Säule der Reform ist aber eine neue Art von Gefängnis, das als Typ F bezeichnet wird. Es handelt sich um Anstalten, die statt aus Grosszellen aus Zellen für maximal drei Häftlinge bestehen. Elf solche Gefängnisse sollen bis Ende des Jahres gebaut werden. Türkischen Häftlingen werde erstmals die Chance eingeräumt, sich auszubilden, Sport zu treiben oder in gemeinsamen Bibliotheken Bücher zu lesen, schwärmte der Justizminister. Anfang August brachen Mitglieder der Istanbuler Vereinigung der Häftlingsfamilien (Tayad) nach Ankara auf, um den Justizminister zu bitten, vom Bau der F-Gefängnisse abzusehen. Politische Häftlinge warnen bereits vor Isolationshaft und bezeichnen die vorgesehenen Einzelzellen als «Isolationssärge». Die Tayad-Mitglieder wollten dem Minister mitteilen, dass ihre Kinder den Kampf gegen die neuen F-Gefängnisse mit Todesfasten führen werden, erzählt eine der organisierten Mütter. Beim letzten Todesfasten politischer Gefangener 1996 hatten zwölf junge Menschen ihr Leben verloren, Dutzende sind für immer gesundheitlich geschädigt. Übertriebene Gewaltanwendung Auf dem Weg nach Ankara sind die Busse der Tayad-Mitglieder mehrmals von der Polizei und der Gendarmerie umstellt worden. Die Gendarmen hätten mit ihren Schlagstöcken einige der Eltern derart zusammengeschlagen, dass sie im Spital behandelt werden mussten, erzählt die Mutter. Der Justizminister habe dann in Ankara jede Verantwortung für die Übergriffe von sich gewiesen, da die Gendarmerie und die Polizei dem Innenministerium unterstehen. Es habe ihn auch nicht interessiert zu erfahren, dass die politischen Insassen beinahe ausnahmslos an Hepatitis B sowie an Lebererkrankungen litten und regelmässig gefoltert würden. Die Präsidentin der parlamentarischen Menschenrechtskommission, Sema Piskinsüt, hat sich in den letzten Monaten einen Namen gemacht, weil sie Foltervorwürfen mutig nachgegangen ist. Dank ihrer Hartnäckigkeit konnte sie erreichen, dass die Kommission einen streng vertraulichen Videofilm über die Ereignisse im Gefängnis Uluncalar in Ankara sehen konnte. Im vergangenen September waren laut offiziellen Ermittlungen während einer Revolte in Uluncalar zehn politische Insassen von Mithäftlingen ermordet worden. In einem Bericht stellte Piskinsüt nun aber diesen Befund in Frage. Die Rede ist von übertriebener Gewaltanwendung der Gendarmerie. Die Gesichter von einigen der Opfer seien völlig entstellt gewesen, vermutlich durch Einwirkung von Säure. Andere Opfer hätten gebrochene Arme, gebrochene Finger sowie zerdrückte Hoden aufgewiesen, allesamt Zeichen von Folter, nicht aber von einer Revolte. Die Rücken von drei der Insassen seien von Schüssen durchlöchert gewesen, stand weiter in dem Bericht. Für Piskinsüt, die in mehreren Polizeiposten und Gefängnissen ermittelte, besteht kein Zweifel, dass Folter in der Türkei systematisch angewendet wird. Ein heisser Oktober Die Istanbuler Anwaltskammer hat sich aus juristischen Gründen gegen den Bau der neuen F-Gefängnisse ausgesprochen. Die Idee für diese Anstalten stütze sich auf Artikel 16 des Antiterrorgesetzes aus dem Jahr 1999, sagt der Präsident der Anwaltskammer, Yücel Sayman. Für politische Häftlinge sei die Isolation vorgesehen. Im Gefängnis in Sincan, das dem Typ F bereits entspreche, gebe es beispielsweise keinen gemeinsamen Essraum. Ob einem Insassen Zugang zur Bibliothek oder eine Arbeit erlaubt werde, hänge vom Ermessen der Wärter ab. Die Aufseher hätten weiter die Möglichkeit, Häftlingen Strom, Wasser und Heizung individuell abzustellen. Eine Art von psychischer Kriegführung gegen jeden einzelnen Häftling sei programmiert, sagt Sayman. Von den schätzungsweise 10 000 kurdischen und linken Häftlingen sind laut Sayman höchstens 10 Prozent wegen einer konkreten Tat verurteilt worden. Die überwältigende Mehrheit der Insassen seien Gesinnungshäftlinge. Juristen, namhafte Intellektuelle, politische Häftlinge und Menschenrechtsorganisationen haben mit Protestaktionen sowie mit Hungerstreiks inner- und ausserhalb der Gefängnismauern gegen die Reformpläne der Regierung den Kampf aufgenommen und dem Justizminister einen heissen Oktober angekündigt.
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