Stuttgarter Zeitung, 23.09.2000 Wann ist eine Vertreibung Völkermord? Zu den heißen Eisen, die das 20. dem 21. Jahrhundert überlassen hat, gehört die Frage, ob die Massaker des Osmanischen Reiches an der armenischen Minderheit als Völkermord zu bezeichnen sind. Nun diskutiert man in den USA, ob ein Gedenktag für diesen Anlass eingeführt wird. Von Jan Keetman, Istanbul Die Ereignisse begannen am 24. April 1915 mit der Festnahme armenischer Intellektueller. Die anschließenden Massendeportationen von Armeniern wurden zu einer Reise, deren Ziel der Tod war. Zehntausende starben, die durch wüstenähnliche Landschaften nach Deir ez-Zor in Syrien getrieben wurden. Armenische Historiker gehen davon aus, dass bei den Deportationen mindestens 800000 Menschen starben; und sogar Zahlen von 1,5 Millionen und darüber werden genannt. Seither haben armenische Kreise unzählige Male versucht, die Geschehnisse wieder auf die politische Bühne zu bringen. Nachdem die Massaker an den Armeniern zuletzt in Frankreich und in Israel auf der politischen Tagesordnung standen, diskutiert nun ein Unterausschuss des amerikanischen Kongresses einen von Abgeordneten der Demokraten und der Republikaner eingebrachten Gesetzentwurf, der vorsieht, dass die USA an jedem 24. April der armenischen Vertreibungen offiziell gedenken und dass US-Diplomaten über dieses Thema ausgebildet werden. Als Vertreter der Türkei hielt vergangene Woche der pensionierte Botschafter und Journalist Gündüz Aktan vor dem Ausschuss eine Rede. Bei einer Annahme des Entwurfes, so Aktan, würden die USA in den Augen der türkischen Öffentlichkeit den Status eines ehrenhaften Vermittlers verlieren. Das erste Opfer wären die Bemühungen der USA, im Zypernkonflikt zu vermitteln. Aktan erinnerte daran, dass die Türkei große Schäden durch das Irak-Embargo hinnehmen müsse und die Luftwaffenbasis in Incirlik für die Überwachung der Flugverbotszone im Irak den USA zur Verfügung stelle. Wenn der Entwurf angenommen werde, so würden die USA diese Möglichkeit verlieren und Iraks Diktator Saddam Hussein die Kontrolle über den Norden des Landes wiedererlangen. Den geografischen Bogen noch weiter spannend wies Aktan darauf hin, dass die USA mit ihrem Projekt eines Energiekorridors von Mittelasien nach Europa ebenfalls auf die Unterstützung der Türkei angewiesen seien. Politische Probleme fürchtet auch die US-Regierung. Die Waffenproduzenten des Landes machen sich Sorgen um ihre lukrativen türkischen Aufträge. Ob solche Befürchtungen die Kongressabgeordneten beeindrucken, ist ungewiss. Vergleiche werden insbesondere zum Verhältnis zu Deutschland gezogen. Der republikanische Abgeordnete Christopher Smith führte ins Feld, dass nicht nur die Türkei ein guter Verbündeter der USA seien, sondern auch Deutschland, und doch würde kein US-Diplomat sagen, die Nazis hätten keinen Völkermord an den Juden begangen. Der demokratische Abgeordnete Cynthia McKinney stellte eine Verbindung zwischen beiden Ereignissen her, indem er auf eine Äußerung Hitlers während einer seiner Tischreden hinwies, in der Hitler, auf die Lage der Juden anspielend, sagte, dass jetzt auch niemand mehr danach frage, was den Armeniern geschehen sei. Gündüz Aktan schlug vor, den Gesetzentwurf zurückzuziehen und die Frage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu verhandeln. Allerdings machte er diesen Vorschlag als Privatmann, was der türkische Außenminister Ismail Cem in Ankara betonte. Der türkische Staat möchte den Fall nicht vor einem internationalen Gericht austragen. Die Türkei geht nach wie vor sehr restriktiv mit dem Thema um. Mehrere Bücher zu dem Thema wurden in den vergangenen Jahren in der Türkei beschlagnahmt, Autoren und Verleger mit Verfahren nach dem Antiterrorgesetz überzogen. Historiker, wie Justin McCarthy fordern bisher vergeblich Zugang zu den einschlägigen Archiven. Mit ihrer Haltung hat die Türkei ihre Lage nur verschlechtert und dafür gesorgt, dass von einem anderen Verantwortlichen für das Schicksal der Armenier nicht die Rede ist. Denn das Deutsche Reich wäre die einzige Macht gewesen, die ihrem Verbündeten hätte in die Arme fallen können. Doch deutsche Offiziere, die in der osmanischen Armee Dienst taten, sahen dem Geschehen zu und waren möglicherweise sogar daran beteiligt.
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