Freitag, 22.9.2000

Peter Strutynski

Neue Kriege der Neuen AUSSEN- UND SICHERHEITSPOLITIK

Zehn Todsünden der rot-grünen Bundesregierung

"Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik", hieß das Versprechen, als Gerhard Schröder antrat - die Halbzeitbilanz muss anderes konstatieren. Für die Außen- und Sicherheitspolitik der Berliner Republik lassen sich "zehn Todsünden" aufzählen. Nun kennt das mittelalterliche Kirchendogma nur sieben - Hoffart, Geiz, Unkeuschheit, Neid, Unmäßigkeit, Zorn und Trägheit -, die nicht mehr unbedingt modernem Denken entsprechen. Obgleich: Dem Verteidigungsminister "Unmäßigkeit" bei seinen Forderungen an den Bundeshaushalt vorzuhalten, wäre schon angemessen. Wenn schließlich "Hoffart" mit Dünkel, Hochmut und Eitelkeit übersetzt wird, ließen sich etliche Beispiele für diese weit verbreitete Todsünde in Regierungs- und Parlamentskreisen nennen. Auch Belege für "Geiz", "Neid" oder "Trägheit" wären mühelos zu finden. Aber wie gesagt - schon bei einem flüchtigen Blick auf die Politik seit dem Machtwechsel von 1998 reicht die heilige Zahl Sieben nicht mehr aus ...

I. Bomben auf Belgrad

"Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen" - das galt als Nachkriegskonsens in Deutschland-Ost wie Deutschland-West. Im Artikel 26 des Grundgesetzes (GG) wird formuliert: "Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen."

Insofern war die deutsche Beteiligung am NATO-Krieg gegen Jugoslawien wohl der gravierendste Bruch mit der Außenpolitik der Bonner Republik seit 1949, die sich während des Kalten Krieges militärischer Abenteuer weitgehend enthalten hatte. Da es sich eindeutig um einen Angriffskrieg handelte, war die Teilnahme daran - genau genommen - das schwerste Verbrechen, dessen sich die politische Führung eines Staates nur schuldig machen kann. Die Regierung trägt damit nicht zuletzt auch die Verantwortung für die während des 78-tägigen Bombenkrieges getöteten Zivilisten sowie für die Schäden an zivilen Einrichtungen.

II. Entsorgungsfall Völkerrecht

"Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes", heißt es in Artikel 25 GG. Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien stellte insofern unzweifelhaft nicht nur einen Bruch geltenden Völkerrechts (damit des Grundgesetzes) dar, sondern verstieß mit seiner Kampfführung auch gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht. Schließlich sei daran erinnert, dass sich die - damals noch existierenden - beiden deutschen Staaten im "2+4-Vertrag" vor genau zehn Jahren verpflichteten, dass "von deutschem Boden nur Frieden ausgehen" und das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen werde, es sei denn in Übereinstimmung mit der Verfassung und der UN-Charta (Artikel 2 des "2+4-Vertrages").

III. Strukturelle Angriffsfähigkeit

Unverkennbar setzte Rot-Grün fort, was die Vorgängerregierung begonnen hatte: Die Transformation der Bundeswehr in eine Interventionsarmee. Das Konzept von Verteidigungsminister Scharping sieht vor, dass künftig rund 150.000 Soldaten für "Kriseneinsätze" bereit stehen, so dass an zwei Kriegsschauplätzen zugleich operiert werden kann. Dies entspricht einer Aufstockung der bisherigen "Krisenreaktionskräfte" (derzeit 66.000) um mehr als das Zweifache. Die Bundeswehr erlangt damit eine strukturelle Angriffsfähigkeit. Bezeichnenderweise setzt sich Scharping damit auch über Vorschläge der von ihm selbst installierten Weizsäcker-Kommission hinweg. Während nach deren Vorstellungen die Bundeswehr auf 240.000 Soldaten reduziert werden sollte, will Scharping 277.000 Soldaten behalten und auf die Wehrpflicht auf keinen Fall verzichten.

IV. Deep-Battle-Kapazität

Nach der Koalitionsvereinbarung wollte sich die Bundesregierung "von der Verpflichtung zur weiteren Zivilisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, zur Rüstungsbegrenzung und Abrüstung" leiten lassen. Allerdings bedingt "strukturelle Angriffsfähigkeit" eine andere Ausrüstung und Bewaffnung der eigenen Streitkräfte - folgerichtig behandelt die Bundesregierung jene Beschaffungsmaßnahmen mit Vorrang, von denen ein Gewinn an Flexibilität und Schlagkraft erwartet wird. So bleibt es beim umstrittenen Rüstungsprojekt Eurofighter 2000 (Beschaffungskosten bis zu 60 Milliarden DM), ist der Bau eines europäischen Großraumflugzeugs A400 M ebenso beschlossen wie die Beschaffung des Kampfhubschraubers Tiger (sechs Milliarden) und des NATO-Hubschraubers NH-90 (sieben Milliarden). Ergänzend sei auf den in der Entwicklung befindlichen Marschflugkörper TAURUS, auf die manuell lenkbaren Flugbomben POLYPHEM, die Kampfdrohnen TAIFUN verwiesen, mit denen die Artillerie ihre Reichweite erhöht. Derart präzise Abstandswaffen verleihen der Bundeswehr eine künftigen Kriegsszenarien angepasste "Deep-Battle-Kapazität".

V. Applaus der Rüstungslobby

Während das bisherige Resumé ergibt, wie die Regierung entweder mit dem Grundgesetz oder der Koalitionsvereinbarung kollidierte, hat in der europäischen Luft- und Raumfahrtindustrie tatsächlich das stattgefunden, was SPD und Bündnisgrüne von vornherein "aktiv fördern" wollten. Im Oktober 1999 fusionierten das DaimlerChrysler-Unternehmen DASA und die französische Aerospatiale Matra zur European Aeronautic, Defense and Space Company (EADS). Dieser Luft- und Raumfahrtkonzern rückte weltweit hinter Boeing an die zweite Stelle, etwa gleichauf mit dem US-Unternehmen Lockheed Martin. Doch damit nicht genug: Ende 1999 trat die spanische Casa der EADS bei, und im April 2000 gründeten dieser Konzern und der italienische Flugzeughersteller Alenia (Tochter von Finmeccanica) ein Gemeinschaftsunternehmen. Als nennenswerter europäischer Luftfahrtkonzern ist nun lediglich British Aerospace noch außen vor, verfügt aber bereits über einen Kanal zur EADS durch die verschmolzene Raketenfertigung von Aerospatiale Matra, British Aerospace und Finmeccanica. Die Lobbyisten sind zufrieden - der EADS-Vorstandsvorsitzende stellt Schröders Equipe ein erstklassiges Zeugnis aus: "Mit der neuen Regierung ist es zu einer bemerkenswerten Richtungsänderung gekommen ... "

VI. Scharping und Eichel

Um Finanzen zu sichern, folgen Scharping und seine Generalität seit 1998 einer Dreifachstrategie: Einmal wird der Eindruck erweckt, die Ausrüstung der Bundeswehr sei derart marode, dass es die "Bündnisfähigkeit" gefährde. Zum Zweiten wird versucht, durch out sourcing Geld zu sparen, das dann für neues Equipment ausgegeben werden kann. Drittens werden nicht mehr gebrauchte Waffen und Ausrüstungen verkauft. Der Erlös fließt indes nicht - wie bei den UMTS-Lizenzen - in den Bundeshaushalt, sondern verbleibt zu 50 Prozent im Verteidigungsministerium, um dort die "investiven" Mittel zu vermehren. Entgegen der mittelfristigen Finanzplanung für den Verteidigungsetat, die für die Jahre 2000 bis 2003 eine leichte Senkung der Ausgaben vorsah (von 45,3 im Jahr 2000 auf 43,7 Milliarden DM 2003), wird dieses Budget wieder steigen. Schon im laufenden Haushaltsjahr wurden die Militärausgaben erhöht, allerdings dadurch kaschiert, dass der Kosovo-Einsatz (zwei Milliarden DM im Jahr 2000) nicht im Einzelplan 14 (Verteidigung), sondern im Einzelplan 60 (allgemeine Finanzverwaltung) geführt ist. Während in fast allen anderen Ressorts Eichels Rotstift agiert, muss Rudolf Scharping 2001 keine Kürzungen hinnehmen.

VII. Waffenexporteur im Aufwind

Zur Beruhigung der Gemüter hatte das Kabinett im Januar neue Rüstungsexportrichtlinien verabschiedet, nach denen bei einer Entscheidung über Waffenverkäufe die Menschenrechte im Empfängerland maßgebendes Kriterium sein sollten. Doch Ende August wurde mit der vom Bundessicherheitsrat genehmigten Lieferung einer Gewehrmunitionsfabrik in die Türkei schon wieder dagegen verstoßen und nach dem Prinzip der Sachzwanglogik eine "Gleichbehandlung" des NATO-Mitglieds Türkei gesucht. So belegt Deutschland auch unter Rot-Grün einen Spitzenplatz unter den Rüstungsexporteuren der Welt. 1998 Rang zwei, 1999 Rang drei. In den achtziger Jahren kam die Bundesrepublik nie über einen fünften bis siebten Platz hinaus. Anfang der Neunziger wurde der erreichte zweite Platz von Kohl und Rühe noch verschämt entschuldigt: Der Verkauf überzähligen Rüstungsmaterials aus NVA-Beständen habe die Exportbilanz "vorübergehend" aufgebläht.

VIII. Überall NATO-Land

Im April 1999 wurde die "neue NATO" geboren. Eine Allianz, die - wie es heißt - auf eine Reihe "globaler und regionaler Bedrohungen" zu reagieren vermag, auf Risiken wie "Instabilität in und um den euroatlantischen Raum sowie die mögliche Entstehung regionaler Krisen an der Peripherie des Bündnisses ..., die Verletzung von Menschenrechten, die Auflösung von Staaten ..." Die jetzige "Strategische Doktrin" geht klar über den Nordatlantikvertrag von 1949 hinaus, der die NATO auf reine Verteidigungsaufgaben verpflichtet hatte (Artikel 5), und autorisiert die Allianz, im Prinzip in jeder Krisenregion zu intervenieren - eine geografische Eingrenzung des Operationsgebiets ist nicht mehr gegeben. Rot-Grün hätte einer solchen Revision des NATO-Vertrages schon deshalb nie zustimmen dürfen, weil diese den von der Bundesrepublik mit dem NATO-Beitritt eingegangenen Verpflichtungen widerspricht, die sich ausschließlich auf den Verteidigungsfall beziehen. Das Demokratieverständnis der Regierung schloss es im Übrigen aus, eine Einbindung in die neue NATO-Doktrin vom Bundestag "absegnen" zu lassen.

IX. Militärisches Subjekt EU

Eine recht agile Rolle darf dem Kabinett Schröder auch bei einer Militarisierung der EU zuerkannt werden. Etappen auf dem Weg dorthin waren die Ernennung des seinerzeit noch amtierenden NATO-Generalsekretärs Javier Solana zum "Hohen Vertreter" für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" (Kölner EU-Gipfel 1999) und der Beschluss beim Europäischen Rat in Helsinki (Dezember 1999), eine EU-Interventionstruppe von rund 50.000 bis 60.000 Soldaten aufzustellen, einen "Ständigen Ausschuss für politische und Sicherheitsfragen", einen "Militärausschuss" wie einen "Militärstab" zu bilden. Klarer als Walther Stützle, Staatssekretär im Verteidigungsministerium, konnte man diese ambitionierten Pläne nicht auf den Punkt bringen: "Eine Union, die sich nicht verteidigen kann, ist keine Union."

X. Entwicklungshilfe verbilligt

"Entwicklungspolitik ist heute globale Strukturpolitik, deren Ziel es ist, die wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und politischen Verhältnisse in Entwicklungsländern zu verbessern", schrieb man 1998 in die Koalitionsvereinbarung, und wollte den Abwärtstrend des Entwicklungshaushaltes umkehren. Seit 1964 (!) gilt nach Beschluss der UN-Vollversammlung, dass die Industriestaaten 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts (BSP) als Entwicklungshilfe zur Verfügung stellen sollen. In der Ära Kohl lag die entsprechende Quote zwischen 0,3 und 0,4 Prozent. Wer glaubte 1998 nicht, Rot-Grün würde die Trendwende suchen? Doch 2000 sank der Entwicklungshilfeanteil auf das historische Tief von 0,28 Prozent des BSP. Halbiert wurde auch der deutsche Beitrag für das UN-Entwicklungsprogramm UNDP (von 80 auf 42, 5 Millionen DM). "Ein schwerer Schlag", wie UNDP-Direktor Mark Malloch klagt, da "ohne Ankündigung" gekürzt wurde und der UNDP in erhebliche Schwierigkeiten geriet. Schließlich: Während der UN-Bevölkerungsfonds von der Kohl-Regierung eine jährlich Zuwendung von 46 Millionen DM bekam, kann er 2000 nur noch mit 18 Millionen rechnen. Das erscheine "wirklich ärgerlich", so Exekutivdirektorin Nafis Sadik, immerhin sei Deutschland ja das "führende Land" in Europa.

Unser Autor ist Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag und Politikwissenschaftler an die Universität GHS Kassel.