Die Welt, 25.9.2000 "Keine Denkverbote bei Zuwanderung" Bundesinnenminister Schily (SPD) will Trennung von Asyldebatte - Missbrauch des Asylverfahrens mindern DIE WELT: Herr Innenminister, gegenwärtig vernehmen wir eine erhitzte Debatte, ob man Plebiszite einführen solle oder nicht. Wie stehen Sie als Verfassungsschutzminister dazu? Otto Schily: Grundsätzlich bin ich dafür. Wir tun gut daran, bei bestimmten und dafür geeigneten Sachentscheidungen unmittelbar das Volk zu beteiligen. Es handelt sich allerdings um eine komplizierte Materie, da nur Ja-Nein-Entscheidungen möglich sind, die keine Differenzierung zulassen. Mein Freund Günter Verheugen hat sich jüngst in einer Weise geäußert, die aufs falsche Gleis führt. Niemand kann ernsthaft einen Volksentscheid in Deutschland wollen, der letzten Endes von einer deutschen Entscheidung abhängig macht, ob Polen der Europäischen Union beitritt oder nicht. Uns zum Vormund der Polen zu machen, wäre eine Katastrophe. Äußerst schwierig und umstritten ist auch, ob Verfassungsfragen, zum Beispiel das Asylrecht, Gegenstand eines Volksentscheides sein können. Deshalb müssen wir über diese Fragen gründlich nachdenken, und wir sollten uns damit Zeit lassen. In dieser Legislaturperiode wird es sicherlich nicht mehr zu solch einer Neuregelung kommen. Überlegenswert wäre, dafür zu gegebener Zeit eine Verfassungskommission einzusetzen. DIE WELT: Müssen wir vor dem Hintergrund der rechtsextremen Ausschreitungen nochmals über die Bannmeile reden? Schily: Darüber zu reden, ist Sache des Parlamentes. Mein Anliegen ist: Ich will verhindern, dass die NPD oder andere rechtsextreme Organisationen vor dem Holocaust-Mahnmal aufmarschieren. Das halte ich für unerträglich. Wir müssen eine Lösung finden, die an diesen exponierten Orten eine derartige Provokation verhindert. DIE WELT: Was sind die Lehren aus der Sommerdebatte über Rechtsextremismus? Schily: Die Debatte war kein Sommertheater, sondern das Thema erreichte die Gesellschaft und auch die Wirtschaft, die sich stärker engagiert als früher. Wir brauchen eine vernünftige Kombination aus repressiven und präventiven Maßnahmen. Wichtig dabei ist, dass der Staat nicht zurückweicht und mit der gebotenen Härte seine Mittel einsetzt. Es darf keine "befreiten Zonen" geben. DIE WELT: Halten Sie ein NPD-Verbot für ratsam? Schily: Die hierfür eingerichtete Arbeitsgruppe wird in allernächster Zeit ihre Ergebnisse vorlegen, und wenn die ermittelten Sachverhalte ausreichen, werden wir das Verbotsverfahren in Gang setzen. DIE WELT: Das hört sich nicht besonders überzeugt an. . . Schily: Für mich ist ein Parteiverbot gewiss die Ultima Ratio. Das Bundesverfassungsgericht hat die Hürden für ein solches Verbot sehr hoch gesetzt. Deshalb müssen wir auf Sorgfalt bedacht sein. Wichtig ist, damit der Verbotsantrag auch den notwendigen Nachdruck erhält, dass Bundesrat, Bundestag und Bundesregierung gemeinsam das Verfahren einleiten. DIE WELT: Die Summierung der täglichen Meldungen legt den Schluss nahe, Deutschland sei ein ausländerfeindliches Land? Schily: Der Eindruck täuscht. Von 1985 bis 1999 sind 10,5 Millionen Menschen zugewandert, bei einer Abwanderung von zirka 7,2 Millionen im selben Zeitraum. Die mussten und müssen integriert werden, was eine große Leistung darstellt. Jedes Jahr kommen 100.000 Aussiedler und rund 60.000 Menschen im Rahmen der Familienzusammenführung. Wir haben zudem große humanitäre Leistungen erbracht. Wir hatten 320.000 Bosnier im Land. Denken Sie auch an die spontane und großzügige Spendenaktion der Deutschen nach dem Erdbeben in der Türkei. Die übergroße Mehrheit der Deutschen ist daher keineswegs ausländerfeindlich, im Gegenteil. DIE WELT: Sie sprechen in letzter Zeit öfter von den Belastungen der Zuwanderung. In der Tat ist sie oft auch mit Zumutungen verbunden ... Schily: Zuwanderung kann mit Belastungen verbunden sein, vor allem, wenn sie ungesteuert verläuft. Es muss erlaubt sein, offen darüber zu sprechen. Es ist übrigens auch nicht ausländerfeindlich, darauf hinzuweisen, dass Integrationsbereitschaft selbstverständlich gerade jene zeigen müssen, die nach Deutschland kommen. Ein wesentliches Element der Integration ist das Erlernen der deutschen Sprache. Ich rate in diesem Zusammenhang dazu, bei Fragen der Zuwanderung stets das Maß an Integrationsfähigkeit eines Landes zu beachten. Deshalb lassen sich Zuwanderungsraten nicht ausschließlich nach demographischen Kriterien festlegen. Es muss stets berücksichtigt werden, wie viele Menschen in welchem Zeitraum integriert werden können. Außerdem glaube ich, dass sich die demographische Entwicklung nicht allein über Einwanderung steuern lässt. Wichtig ist dafür auch eine offensive Familienpolitik. DIE WELT: Einer Bevölkerung mit fast vier Millionen Arbeitslosen klarzumachen, dass vermehrt Leute aus dem Ausland kommen müssen, ist nicht einfach. Schily: Umso wichtiger ist der Hinweis, dass nach zuverlässigen Schätzungen jeder IT-Techniker, der mit einer Green Card zu uns kommt, mindestens zwei bis drei Arbeitsplätze schaffen wird. Generell haben wir in Deutschland eine seltsame Situation: einerseits Arbeitslosigkeit, andererseits Arbeitskräftemangel. Wir brauchen also ein flexibles System. Ob Einwanderungsquoten überhaupt der Weisheit letzter Schluss wären, dessen bin ich mir gar nicht so sicher. Was wir brauchen, ist ein flexibles, praktikables und transparentes System, in dem rasch und unbürokratisch auf die Interessen der Wirtschaft, der Kommunen und des Arbeitsmarktes reagiert werden kann. DIE WELT: Soll man Asyl und Einwanderung miteinander verbinden? Schily: Ich gebe denen Recht, die sagen, man solle Asyl und Zuwanderung auseinander halten, leider sind sie derzeit de facto vermengt. Daraus müssen wir Konsequenzen ziehen. Die Asylverfahren werden in großem Umfang zur Einwanderung genutzt. Das beweist die niedrige Anerkennungsrate bei Asyl Suchenden. Das sehen Sie auch daran, dass 80 Prozent der Entscheidungen des Bundesamtes angefochten werden, zirka 90 Prozent der Gerichtsentscheidungen aber die Ablehnung der Asylgesuche bestätigen. Die Anrufung des Gerichtes dient offenbar nur der Verlängerung des Aufenthaltes. Wir müssen daher dringend zu Lösungen kommen, die die Nutzung des Asylverfahrens als Zuwanderung auf Zeit zurückdrängen. DIE WELT: Ein Problem ist doch die Abschiebung der abgelehnten Asyl Suchenden. Schily: Das ist in der Tat ein schwerwiegendes Problem. In der Regel ergeben sich die Schwierigkeiten aus mangelnder Kooperation bestimmter Herkunftsstaaten. Es gibt eine große Zahl von Menschen, deren Ausreisepflicht wir infolgedessen nicht durchsetzen können. Ich habe deshalb mit den Ländern eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die Lösungswege sucht. Dazu gehört auch der Ausbau von Rückübernahmeabkommen. DIE WELT: Wie steht es mit der illegalen Einwanderung? Schily: Zur Verhinderung illegaler Einwanderung und Schleusungskriminalität setzen wir verstärkt auf vorgelagerte polizeiliche Arbeit in den Herkunfts- und Transitländern. So haben wir beispielsweise soeben mit Italien vereinbart, dass wir uns an einer polizeilichen Institution beteiligen, die in Albanien stationiert ist. Außerdem haben wir in mehrere Länder Verbindungsbeamte entsandt. DIE WELT: Kann man über den gesamten Themenkomplex offen reden, ohne in die "rechte" Ecke gestellt zu werden? Schily: Probleme, die mit Zuwanderung verbunden sind, nicht offen zu diskutieren wäre verhängnisvoll. Es darf keine Denkverbote geben. Nichts soll zum Tabu erklärt werden. Entscheidend ist nicht die Norm als solche, sondern ausschlaggebend ist, wie sie in der Wirklichkeit ankommt. Wir müssen deshalb vorurteilsfrei prüfen, wie wir unter Wahrung unserer humanitären Verpflichtung zur Aufnahme politisch Verfolgter künftig Zuwanderung besser steuern können als bisher. Das Gespräch führten Jacques Schuster und Andrea Seibel
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