Tagesspiegel 26.9.2000
"Gedankenverbrechen" werden weiter geahndet
Debatte über Meinungsfreiheit - Birdal bleibt bedroht
Thomas Seibert
Als der türkische Menschenrechtler Akin Birdal am Samstag nach zehn
Monaten Haft aus dem Gefängnis entlassen wurde, sagte er, hoffentlich
sei er der Letzte gewesen, der in der Türkei wegen einer Meinungsäußerung
eingesperrt wurde. Daraus wird wohl nichts. "Gedankenverbrechen"
werden von den Gerichten weiter scharf geahndet. Die Grundlage bildet
der Paragraph 312 des türkischen Strafgesetzbuches, der auch Birdal
zum Verhängnis wurde. Die türkische Regierung diskutiert zwar
zur Zeit über eine Änderung dieses Keulen-Paragraphen, mit dem
sich so gut wie alle unliebsamen Äußerungen als Volksverhetzung
definieren lassen. Doch die Widerstände sind groß.
Birdal musste ins Gefängnis, weil er in einer Rede eine friedliche
Beilegung des Kurdenkonfliktes gefordert hatte. Das Gericht sah den Tatbestand
der Volksverhetzung als gegeben an, weil Birdal mit seiner Äußerung
zwischen Türken und Kurden unterschieden habe. Diese haarsträubend
wirkende Argumentation wird durch den zweiten Absatz des Paragraphen 312
gedeckt: "Jeder, der das Volk offen zu Hass und Feindschaft aufhetzt,
indem er Unterscheidungen nach Klasse, Rasse, Glauben, Konfession oder
Region vornimmt, wird zu Gefängnis zwischen einem und drei Jahren
bestraft", heißt es da. Weil das Gesetz keine Kriterien dafür
beinhaltet, wo die Volksverhetzung anfängt, handelt die türkische
Justiz nach dem Motto: Lieber einen Verdächtigen zu viel verurteilen
als einen zu wenig.
Der Paragraph 312 wird vor allem gegen Menschenrechtler, Journalisten
und Vertreter des politischen Islam eingesetzt. Wenn ein Bürgerrechtler
dann auch noch so klare pro-kurdische Tendenzen zeigt wie Birdal, dann
wird er erst recht zur Zielscheibe misstrauischer Staatsanwälte:
Gegen Birdal laufen derzeit noch rund 20 Verfahren. Die Tatsache, dass
der prominenteste Menschenrechtler der Türkei noch unter den Spätfolgen
eines Attentats aus dem Jahr 1998 leidet, spielt dabei kaum eine Rolle.
Die jetzt abgelaufene Strafe durfte Birdal im vergangenen Winter zwar
unterbrechen - im März musste er aber wieder in seine Zelle zurück,
um den Rest abzusitzen.
So kann es nicht weitergehen, meint EU-Minister Mesut Yilmaz. Der sowohl
im Inland als auch im Ausland heftig umstrittene Paragraph 312 müsse
sofort korrigiert werden, forderte der konservative Politiker am Wochenende.
Yilmaz fürchtet um die EU-Chancen Ankaras. Doch in der Regierung
von Ministerpräsident Bülent Ecevit und in der türkischen
Öffentlichkeit sind nicht alle seiner Meinung. Die rechtsnationale
Koalitionspartei MHP betrachtet den Paragraphen 312 als Garanten staatlicher
Stabilität. Erzkonservative in Justiz und Presse wenden sich ebenfalls
gegen eine Veränderung. Jetzt haben die Reformanhänger jedoch
ausgerechnet aus dem islamistischen Lager Unterstützung erhalten.
Die islamistische Tugendpartei ruft nach einer Änderung des Paragraphen
312 - denn ihr geistiger Vater, der frühere Ministerpräsident
Necmettin Erbakan, soll ein Jahr ins Gefängnis, weil er wie Birdal
in einer Rede zwischen Kurden und Türken unterschied. Möglicherweise
sind die Tage des Keulen-Paragraphen tatsächlich gezählt.
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