taz 26.9.2000

schilys tabuloser diskurs

Reden ohne Verantwortung

War im Nationalsozialimus wirklich alles so schlecht? Gibt es da nicht ein paar Dinge, auf die man als Deutscher stolz sein kann, muss, darf? Trotz Holocaust? Viele Deutsche leiden unter Tabus. Gerne würden sie so manches einmal anders betrachten und bereden, wären da nicht die nationalen und internationalen Sanktionen und Belehrungen.

Als der "Republikaner" Franz Schönhuber vor Jahren verkündete: "Ich war dabei" (in der Waffen-SS), da wirkte das für viele Bürger als Befreiung. Die Bierzelte füllten sich, und die begeisterten Zuhörer bewiesen: Schönhuber stieß mit seinem Tabubruch keine neuen Türen auf, sondern stolzierte erhobenen Hauptes durch weit geöffnete Tore.

Kommentar von EBERHARD SEIDEL

Auch Innenminister Otto Schily kann sich breiter Zustimmung sicher sein, wenn er fordert: Nichts sollte in der einwanderungs- und asylpolitischen Diskussion zum Tabu erklärt werden. Doch worüber Schily jetzt endlich offen reden möchte, ist schon seit Jahrzehnten Dauerthema. Es stellt sich also die Frage: Welche Tabus will Schily eigentlich noch brechen?

Es gibt Tabus, an die aus guten Gründen nicht gerührt werden sollte. Denn die Erfahrung lehrt: Wenn Menschen ihre Persönlichkeit geraubt wird, wenn sie auf Kategorien wie Sozialschmarotzer, Asylmissbraucher, Krimineller reduziert werden, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt zu Mord, Totschlag und Gewalt.

Umgekehrt gibt es aber auch Zustände, die nicht tabuisiert werden sollten, da ansonsten die Herrschafts- und Gewaltverhältnisse verschleiert werden. So sollte zum Beispiel nicht tabuisiert werden, dass die aktuelle Diskussion um den Rechtsextremismus den Rassismus im Land stärkt.

Wenn etwa die Unternehmerverbände fast täglich beteuern, wie wirtschaftlich notwendig Einwanderung sei, gleichzeitig aber zum skandalösen Umgang mit den Flüchtlingen schweigen, dann signalisieren sie: Es gibt Nützlinge und Schädlinge.

Wenn die Öffentlichkeit sich bei einem Anschlag auf jüdische Kontingentflüchtlinge oder auf eine Synagoge vor Betroffenheit überschlägt, aber seltsam still bleibt, wenn ein Brandanschlag eine Moschee oder - wie am Wochenende in Wuppertal - eine kosovarische Familie trifft, dann ist die Botschaft: Es gibt gute und schlechte Flüchtlinge.

Wenn Otto Schily Familien wie jene aus Wuppertal dem tabulosen Diskurs ausliefert, dann gilt leider: Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen seinem Gerede und der rassistischen Aktion der Straße.