Stuttgarter Zeitung, 28.09.2000 Nur guter Wille oder Vorstufe einer Verfassung Europas? Beim Gipfeltreffen Mitte Oktober in Biarritz werden die Staats- und Regierungschefs der EU ein Dokument beraten, das die Grundrechte für 370 Millionen Europäer festzuschreiben beabsichtigt. Die Befürworter sehen in der Charta einen ersten Baustein einer Verfassung für Europa. Von Werner Birkenmaier Die EU ist auch bisher kein grundrechtsfreier Raum. Allerdings enthält keiner der drei Gemeinschaftsverträge einen umfassenden Katalog derartiger Rechte. Die EU-Mitglieder haben sich an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden, und nicht wenige können in ihren nationalstaatlichen Verfassungen auf einen ausführlichen Grundrechtsteil verweisen. Für den Rechtsalltag hat das bisher ausgereicht, und notfalls haben Richter der europäischen Gerichtshöfe in Straßburg und Luxemburg die Lücken mit Richterrecht gefüllt. Doch für ein Gemeinwesen, das sich nicht mehr nur als wirtschaftliche, sondern zunehmend auch als politische Einheit versteht, reicht das auf Dauer nicht aus. Der Plan, eine Charta der Grundrechte für die Europäische Union zu schaffen, wurde bewusst zu dem Zweck in Angriff genommen, die Bürger, die den europarechtlichen Dschungel kaum noch durchschauen, stärker an die Union zu binden und die Integration zu vertiefen. Europa, das soll deutlich werden, besteht eben nicht nur aus Rindfleisch-, Traktorensitz- und Bananenmarktordnungen. In Deutschland hat die rot-grüne Koalition die Debatte über die Notwendigkeit einer europäischen Verfassung wieder aufgenommen und intensiviert. Weil es aber Widerstände in Großbritannien und Skandinavien gab, konzentrierte man sich auf das Projekt einer europäischen Grundrechtscharta. Die von der Bundesregierung angeregte und vom Europäischen Rat von Köln im Juni 1999 beschlossene Ausarbeitung eines Grundrechtskatalogs führte dann zum Beschluss von Tampere, einen Konvent einzuberufen, dem die vorbereitende Redaktionsarbeit übertragen wurde. Unter Leitung des vormaligen Verfassungsrichters und Bundespräsidenten Roman Herzog gelang es diesem Gremium in erstaunlich kurzer Zeit, einen Entwurf auszuarbeiten, der nunmehr der Öffentlichkeit vorliegt. Nach abschließenden Beratungen in Biarritz soll er auf der Regierungskonferenz in Nizza Anfang Dezember feierlich verkündet werden. Die Frage nach demokratischer Legitimation lässt sich positiv insofern beantworten, als in dem Konvent sechzehn Mitglieder des europäischen Parlaments und dreißig Mitglieder nationaler Parlamente vertreten waren. Nach der feierlichen Proklamation der Charta als politisches Dokument durch den EU-Rat, das Europäische Parlament und die Kommission soll dann geprüft werden, ob und gegebenenfalls wie sie in die Gemeinschaftsverträge eingearbeitet werden kann - und damit verbindliches Recht wird. Doch bis dahin ist es noch weit. Roman Herzog ist dennoch optimistisch: sei die Charta erst einmal politisch angenommen, werde sich "ihre Kraft'' rasch entfalten. "Bis zur Verbindlichkeit ist dann nur noch ein kleiner Schritt.'' Dennoch sollte man die Schwierigkeiten nicht unterschätzen. England, das keine geschriebene Verfassung kennt, will die Charta rasch als "politische Erklärung'' verabschiedet wissen - und es dann dabei bewenden lassen. Die skandinavischen Staaten sehen es ähnlich. Dabei geht es nicht nur um unterschiedliche Rechtstraditionen. Die Skeptiker - und zu diesen zählt auch die CSU - befürchten eine Kompetenzausweitung der EU zu Lasten der Mitgliedsländer. Einfallstor sei die Verankerung umfassender sozialer und individueller Leistungsrechte. Durch die Charta befinde sich die EU, sagen die Kritiker, auf dem Weg, ein einheitlicher Staat werden, "ohne die Völker und die zuständigen Parlamente an diesem Prozess zu beteiligen'', so der CSU-Europapolitiker Gerd Müller. In der Tat ist zu fragen, ob es bei der Charta bereits um ein Teilstück einer künftigen europäischen Verfassung geht, wie Außenminister Fischer meint, oder nur um ein Grundrechtsstatut für den Geltungsbereich des europäischen Rechts. Sieht man genauer hin, dann erschließt sich, dass sich der Konvent für die zweite Möglichkeit entschieden hat, also den bescheideneren Weg gegangen ist. Artikel fünfzig der Charta stellt denn auch in wünschenswerter Deutlichkeit fest, dass das Dokument für die Organe und Einrichtungen der Union und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Ausführung des Rechts der EU gilt. Wörtlich: "Diese Charta begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Gemeinschaft und für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.'' Erstaunlich ist zunächst einmal, dass es angesichts der europäischen Vielfalt überhaupt gelungen ist, sich auf einen gemeinsamen Entwurf zu einigen. Kein Mitglied wollte hinter seinen Standard zurückfallen. Die Menschenrechtskonvention musste ebenso einbezogen werden wie die Europäische Sozialcharta und die Rechtsprechung der europäischen Gerichtshöfe. Andererseits war klar, dass so weit gehende Sozialstandards, wie sie etwa die portugiesische Verfassung enthält, nicht ohne weiteres umgesetzt werden konnten. Konflikte waren vorprogrammiert. Das beginnt schon bei der Präambel. Dort ist vom "kulturellen, humanistischen und religiösen Erbe'' Europas die Rede. Das Wort "religiös'' will aber Frankreichs Regierung nicht akzeptieren, weil sie auf strikter Trennung von Staat und Kirche beharrt. Dieser Streit ist noch nicht beigelegt. Vielleicht wird es für Deutsche und Franzosen unterschiedliche Wortlaute geben müssen. Ähnlich dem Grundgesetz beginnt die Charta mit der Würde des Menschen, gewährt Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, verbietet Folter und erniedrigende Behandlung ebenso wie Sklaverei und Zwangsarbeit. Knapp und klassisch formuliert ist Artikel sieben: "Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.'' Dann folgen der Schutz personenbezogener Daten sowie der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Artikel 14 gewährleistest das Recht auf Bildung. Ausdrücklich anerkannt ist in Artikel 16 die unternehmerische Freiheit. Das Asylrecht orientiert sich - wohl als Formelkompromiss - an der Genfer Flüchtlingskonvention. Kollektivausweisungen werden untersagt. Der Artikel 21 postuliert ein Diskriminierungsverbot, das die Grünen und Teile der SPD auch gern in der deutschen Verfassung stehen hätten. Umstritten war der Wortlaut der Grundrechte, die sich unter dem Kapitel "Solidarität'' versammeln. Während Briten und Konservative die Vorschläge meist als zu weit gehend empfanden, forderten vor allem linke Abgeordnete individuell einklagbare Grundrechte. Doch wohl dank einer klugen Regie ist es dazu nicht gekommen. Aus dem geforderten "Recht auf Arbeit'' wurde das "Recht auf unentgeltlichen Zugang zu einer Arbeitsvermittlung'' (Artikel 28). Allerdings fand dann das Wort "Streik'' schließlich doch noch Eingang in die Charta. Daneben gibt es eher pauschal gehaltene Ansprüche auf Verbraucherschutz, eine saubere Umwelt, den Einklang von Familien- und Berufsleben, Gesundheitsschutz und Recht auf Wohnungsbeihilfe. Doch fast alle diese Bestimmungen verweisen auch auf einzelstaatliche Vorschriften. Mit dieser Einschränkung soll Raum bleiben für nationale Eigenheiten. Auch bei der Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit konnte sich die Linke nicht durchsetzen. Sie begehrte Freizügigkeit innerhalb der EU-Staaten auch für Staatsangehörige dritter Länder. Diesen kann, so heißt es in Artikel 44 einschränkend, Freizügigkeit gemäß dem EU-Gründungsvertrag gewährt werden. Muss aber nicht. So gesehen geht die Kritik der CSU hier fehl, wenn sie befürchtet, es werde zu einer "massiven Zuwanderung'' kommen, weil etwa viele Brasilianer über ihre portugiesischen Kontakte Aufenthaltsrechte erlangten. Fraglich ist auch, ob der in Artikel 33 festgehaltene Anspruch auf Sozialleistungen bis hin zur Wohnbeihilfe für die Kommunen eine Ausgabenlawine in Milliardenhöhe bedeutet. Denn auch hier heißt es, die Ansprüche seien zu gewähren "nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften''. Bedenkt man, wie stark der Druck gerade bei der Formulierung wirtschaftlicher und sozialer Grundrechte war, haben die Autoren letztlich doch viel Realitätssinn bewiesen. Erfreulicherweise sieht die Charta davon ab, eine europäische Verfassungsbeschwerde zu schaffen. Das wäre ein neues Rechtsmittel. Der EU-Bürger kann sich gegen Gemeinschaftsrecht anders wehren. Er kann Gerichte seines Landes anrufen, wenn dessen Behörden Gemeinschaftsrecht anwenden - bis hin zum Bundesverfassungsgericht. Er kann aber auch vor den Europäischen Gerichtshof ziehen, wenn es direkt gegen Brüssel geht. Wenn die Charta als politische Deklaration nur feierlich erklärt und nicht vertraglich festgezurrt wird, dürfte sich für die Bürger nicht viel ändern. Gut möglich aber, dass der Europäische Gerichtshof die Grundrechtscharta sozusagen beim Wort nimmt und Entscheidungen an ihr orientiert. Auf diesem Umweg könnte sich die Charta schon bald in den Mitgliedstaaten auswirken, obwohl sie doch nur die EU und deren Einrichtung binden soll. Günter Hirsch, Präsident des Bundesgerichtshofes und zuvor Richter am Europäischen Gerichtshof, empfiehlt jedenfalls, der Charta einen Kompetenzkatalog beizugeben, der verhindern soll, dass die EU, gestützt auf den Grundrechtskatalog, in Gebiete vordringe, für die ausschließlich die Mitgliedstaaten zuständig sind. Die Charta: www.europarl.eu.int/charter/activities/docs/pdf/de/convent47_de.pdf
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