junge Welt, 29.09.2000 Die Wut der Flüchtlinge Interkulturelle Woche in Cottbus - ein Kommentar Mehrere hundert Flüchtlinge aus Brandenburg hatten am Sonntag unter massiven Protesten die Auftaktveranstaltung der interkulturellen Woche in Cottbus verlassen. Sie führten eine eigene Demonstration in der Innenstadt durch. Ihre Teilnahme an der vorheringen Auftaktveranstaltung dauerte nur kurz. Von den Veranstaltern nicht vorgesehene Reden der Flüchtlinge auf der Bühne hatten das offizielle Programm gesprengt. Eine Moderatorin wollte ein Transparent der Flüchtlinge gegen staatlichen Rassismus nicht auf dem Platz vor der Bühne sehen. Ministerpräsident Manfred Stolpe, der Oberbürgermeister von Cottbus Waldemar Kleinschmidt und die Ausländerbeauftragte des Landes Almuth Berger standen mit auf der Bühne und mußten den Rednern zu hören. Um die Bedeutung dieses Protestes der Flüchtlinge einzuordnen, sollte man einen Blick auf die Diskussionen im Sommer werfen. Nach dem Mord an Alberto Adriano in Dessau und dem Sprengstoffanschlag in Düsseldorf war der Rechtsextremismus Hauptthema von Politik und Medien geworden. In der Auseinandersetzung standen zwar vom Rassismus Betroffene im Mittelpunkt, allerdings nur als leidende Opfer des Naziterrors. Von Beckstein über BDI- Chef Henkel bis Schröder waren sich die Vordenker der Nation einig, daß man Ausländer nicht totschlagen soll und »ausländerschlagende Deutsche« mit aller Härte bekämpfen muß. Der Aufruf zu Toleranz, Mitmenschlichkeit und Zivilcourage war allerdings nicht neu, ebenso dessen Hilflosigkeit. In diesem Kontext stand auch die Cottbuser Veranstaltung des Landes Brandenburg. Unabhängig davon, wie engagiert sich Almuth Berger und lokale Initiativen seit Jahren gegen Rassismus eingesetzt hatten - die Botschaft einer solchen Feierlichkeit wäre ein fiktives Bild vom friedlichen Miteinander zwischen Deutschen und Flüchtlingen gewesen: Trommelnde Flüchtlinge, internationale Küche und offiziell mitleidende Politiker. Genau das, was der Staat und die deutsche Bevölkerung derzeit brauchen: Aufpolieren des deutschen Ansehens im Ausland und Selbstentlastung der Mehrheit der Deutschen. Das haben die Flüchtlinge erkannt, das wollten sie durch ihre Proteste entlarven. Sie wollten das öffentliche Interesse an der Veranstaltung nutzen, um auf die Abschottung von der Gesellschaft in gefängnisähnlichen Lagern und die rassistische Ablehnung durch die deutsche Bevölkerung hinzuweisen. »Uns bleibt als einzige Waffe nur der Schrei«, sagte auf der Bühne ein kamerunischer Flüchtling aus Cottbus. In ihren Reden erteilten die Flüchtlinge der ihnen zugeteilten Rolle leidender Opfer eine Absage. Sie wollen nicht mehr länger Objekte der Politik sein, sondern selbstbewußt in das politische Geschehen um sie herum eingreifen. Die Szenen auf der Bühne ließen Erinnerungen an Malcolm X lebendig werden. Als Vertreter der Flüchtlingsinitiative Brandenburg ihre Reden hielten, standen immer wieder Flüchtlinge auf und äußerten sehr emotional ihre Wut mit Sprüchen und Beifall. Der Ablauf dieses Protestes entwickelte eine eigene Dynamik, riß andere Flüchtlinge mit. Motor waren hier nicht aus Berlin angereiste Linke. Es waren die angereisten Flüchtlinge selbst, die in Cottbus bei ihrer anschließenden Demonstration kämpferische Reden in ihren Mutter- bzw. Landessprachen hielten - in Englisch, Französisch, Indisch, Kurdisch, Persisch, Türkisch, Russisch und Deutsch. Es waren spontane Reden, wütende Reden. »Wir haben genug gesessen, heute stehen wir auf, und wir werden weitergehen«, rief eine Afrikanerin über Lautsprecher. Tanzend und singend, fröhlich, aber kämpferisch. Die Botschaft dieser Aktion war klar, ob sie dem Cottbuser bzw. Brandenburger vermittelt werden konnte bleibt fragwürdig, da sich nur wenige Deutsche am Oberkirchplatz blicken ließen. Und die wenigen bürgerlichen Antirassisten um Stolpe und Berger hatten sich der Demonstration der Flüchtlinge nicht angeschlossen. Damit haben sie auch die Grenzen ihres Antirassismus gezeigt - den Standort Deutschland. Aycan Demirel
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