taz 29.9.2000 tag des flüchtlings Ein Blick nach innen Die karitativen Organisationen und Menschenrechtsgruppen, die gestern anlässlich des "Tages des Flüchtlings" ihr Memorandum präsentierten, bettelten nicht, sie forderten die Einhaltung des Rechts. Schließlich hat die Bundesrepublik die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert. Misst man mit dieser Elle, so ist die deutsche Asylbilanz düster - selbst im Vergleich zur zunehmend restriktiven Praxis der europäischen Nachbarn. Kommentar von CHRISTIAN SEMLER Der Grund für diesen Zustand ist leicht benannt, aber schwer zu beseitigen. Um mit amnesty international zu sprechen: "Die Asyldebatte wird unter dem Gesichtspunkt der Abwehr von und der Abschottung gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden geführt." Es ist eine Debatte, die Ängste schürt, nicht abbaut. Die den Blick nicht weitet, sondern nach innen richtet, auf die Verteidigung der Festung. Die die Erfahrungen von Flucht und Exil nicht wach hält, sondern historisches Bewusstsein verschüttet, nicht an Großzügigkeit appelliert, sondern an kalten Egoismus. Und diese Debatte nährt sich von Vorgaben, die "aus der politischen Mitte" kommen. Wobei die Angstmacher auf der Regierungsbank sich anschließend beklagen, es sei die Massenstimmung, die sie zu weiteren restriktiven Maßnahmen zwinge. Die Unterstützer des Memorandums wollen eine breite gesellschaftliche Gegendebatte anstoßen. Das ist die große, die schwierige Aufgabe. Vor ihr zu kapitulieren hieße, "die psychologische und soziale Aufnahmekapazität" (Rita Süssmuth) der Bevölkerung in den westlichen Ländern als Naturkonstante anzusehen, die durch keinerlei Argumente zu vergrößern ist. Fast überflüssig zu sagen, dass hier das bevorzugte Terrain von Bündnisgrünen, linken Sozialdemokraten und der christlichen Sozialethik verpflichteten Politikern liegen müsste. Woher nur die Kraftlosigkeit, woher das Zurückweichen vor der Debatte insbesondere im grünen Milieu? Was ist geblieben von der einst viel beschworenen Dialektik von parlamentarischer Arbeit und außerparlamentarischem Kampf? Institutionelles, auf Ressorts und Aufgabenverteilung fixiertes Denken? Resignation angesichts angeblich unüberwindlicher Vorurteilsbastionen der Bevölkerungsmehrheit? Lähmende Routine, weil das Immergleiche immer wieder gesagt werden muss? Die große Debatte um Asyl und Flüchtlinge, sie muss auch in die Reihen derer getragen werden, die angetreten sind, in der Bundesrepublik die Standards einer Bürgergesellschaft durchzusetzen.
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